Jm Anschluß an diese Betrachtung der natürlichen Züchtung las- sen Sie uns nun einen Blick auf die unmittelbaren Folgen werfen, welche aus deren Thätigkeit sich ergeben. Unter diesen Folgen treten uns zunächst zwei äußerst wichtige organische Grundgesetze entgegen, welche man schon lange empirisch in der Biologie festgestellt hatte, näm- lich das Gesetz der Arbeitstheilung oder Differenzirung und das Gesetz des Fortschritts oder der Vervollkommnung. Diese beiden Grundgesetze lassen sich durch die Selectionstheorie als nothwendige Folgen der natürlichen Züchtung im Kampf um's Dasein erklären. Wir haben diesen Proceß selbst als mechanisch nachgewiesen und gezeigt, daß die Vererbung materiell durch die Fortpflanzung, die Anpassung materiell durch die Ernährung bedingt ist, und daß beide Functionen auf mechanische, also physikalische und chemische Ursa- chen zurückzuführen sind. Wie von der natürlichen Züchtung selbst, so gilt dies auch von jenen beiden großen Erscheinungen, mit denen wir uns jetzt zu beschäftigen haben, von den Gesetzen der Divergenz und des Fortschritts. Man war früher, als man in der geschichtlichen Entwicke- lung, in der individuellen Entwickelung und in der vergleichenden Anato- mie der Thiere und Pflanzen durch die Erfahrung diese beiden Gesetze kennen lernte, geneigt, dieselben wieder auf eine unmittelbare schöpfe- rische Einwirkung zurückzuführen. Es sollte in dem zweckmäßigen Plane des Schöpfers gelegen haben, die Formen der Thiere und Pflanzen im Laufe der Zeit immer mannichfaltiger auszubilden und immer vollkommener zu gestalten. Wir werden offenbar einen großen Schritt in der Erkenntniß der Natur thun, wenn wir diese teleologische und anthropomorphe Vorstellung zurückweisen, und die beiden Gesetze der Arbeitstheilung und Vervollkommnung als nothwendige Folgen der natürlichen Züchtung im Kampfe um's Dasein nachweisen können.
Das erste große Gesetz, welches unmittelbar und mit Nothwen- digkeit aus der natürlichen Züchtung folgt, ist dasjenige der Sonde- rung oder Differenzirung, welche man auch häufig als Ar- beitstheilung oder Polymorphismus bezeichnet, und welche Darwin als Divergenz des Charakters erläutert. (Gen.
Nothwendige Folgen der natuͤrlichen Zuͤchtung.
Jm Anſchluß an dieſe Betrachtung der natuͤrlichen Zuͤchtung laſ- ſen Sie uns nun einen Blick auf die unmittelbaren Folgen werfen, welche aus deren Thaͤtigkeit ſich ergeben. Unter dieſen Folgen treten uns zunaͤchſt zwei aͤußerſt wichtige organiſche Grundgeſetze entgegen, welche man ſchon lange empiriſch in der Biologie feſtgeſtellt hatte, naͤm- lich das Geſetz der Arbeitstheilung oder Differenzirung und das Geſetz des Fortſchritts oder der Vervollkommnung. Dieſe beiden Grundgeſetze laſſen ſich durch die Selectionstheorie als nothwendige Folgen der natuͤrlichen Zuͤchtung im Kampf um’s Daſein erklaͤren. Wir haben dieſen Proceß ſelbſt als mechaniſch nachgewieſen und gezeigt, daß die Vererbung materiell durch die Fortpflanzung, die Anpaſſung materiell durch die Ernaͤhrung bedingt iſt, und daß beide Functionen auf mechaniſche, alſo phyſikaliſche und chemiſche Urſa- chen zuruͤckzufuͤhren ſind. Wie von der natuͤrlichen Zuͤchtung ſelbſt, ſo gilt dies auch von jenen beiden großen Erſcheinungen, mit denen wir uns jetzt zu beſchaͤftigen haben, von den Geſetzen der Divergenz und des Fortſchritts. Man war fruͤher, als man in der geſchichtlichen Entwicke- lung, in der individuellen Entwickelung und in der vergleichenden Anato- mie der Thiere und Pflanzen durch die Erfahrung dieſe beiden Geſetze kennen lernte, geneigt, dieſelben wieder auf eine unmittelbare ſchoͤpfe- riſche Einwirkung zuruͤckzufuͤhren. Es ſollte in dem zweckmaͤßigen Plane des Schoͤpfers gelegen haben, die Formen der Thiere und Pflanzen im Laufe der Zeit immer mannichfaltiger auszubilden und immer vollkommener zu geſtalten. Wir werden offenbar einen großen Schritt in der Erkenntniß der Natur thun, wenn wir dieſe teleologiſche und anthropomorphe Vorſtellung zuruͤckweiſen, und die beiden Geſetze der Arbeitstheilung und Vervollkommnung als nothwendige Folgen der natuͤrlichen Zuͤchtung im Kampfe um’s Daſein nachweiſen koͤnnen.
Das erſte große Geſetz, welches unmittelbar und mit Nothwen- digkeit aus der natuͤrlichen Zuͤchtung folgt, iſt dasjenige der Sonde- rung oder Differenzirung, welche man auch haͤufig als Ar- beitstheilung oder Polymorphismus bezeichnet, und welche Darwin als Divergenz des Charakters erlaͤutert. (Gen.
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Nothwendige Folgen der natuͤrlichen Zuͤchtung.
Jm Anſchluß an dieſe Betrachtung der natuͤrlichen Zuͤchtung laſ-
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welche aus deren Thaͤtigkeit ſich ergeben. Unter dieſen Folgen treten
uns zunaͤchſt zwei aͤußerſt wichtige organiſche Grundgeſetze entgegen,
welche man ſchon lange empiriſch in der Biologie feſtgeſtellt hatte, naͤm-
lich das Geſetz der Arbeitstheilung oder Differenzirung und
das Geſetz des Fortſchritts oder der Vervollkommnung.
Dieſe beiden Grundgeſetze laſſen ſich durch die Selectionstheorie als
nothwendige Folgen der natuͤrlichen Zuͤchtung im Kampf um’s Daſein
erklaͤren. Wir haben dieſen Proceß ſelbſt als mechaniſch nachgewieſen
und gezeigt, daß die Vererbung materiell durch die Fortpflanzung,
die Anpaſſung materiell durch die Ernaͤhrung bedingt iſt, und daß
beide Functionen auf mechaniſche, alſo phyſikaliſche und chemiſche Urſa-
chen zuruͤckzufuͤhren ſind. Wie von der natuͤrlichen Zuͤchtung ſelbſt, ſo gilt
dies auch von jenen beiden großen Erſcheinungen, mit denen wir uns
jetzt zu beſchaͤftigen haben, von den Geſetzen der Divergenz und des
Fortſchritts. Man war fruͤher, als man in der geſchichtlichen Entwicke-
lung, in der individuellen Entwickelung und in der vergleichenden Anato-
mie der Thiere und Pflanzen durch die Erfahrung dieſe beiden Geſetze
kennen lernte, geneigt, dieſelben wieder auf eine unmittelbare ſchoͤpfe-
riſche Einwirkung zuruͤckzufuͤhren. Es ſollte in dem zweckmaͤßigen
Plane des Schoͤpfers gelegen haben, die Formen der Thiere und
Pflanzen im Laufe der Zeit immer mannichfaltiger auszubilden und
immer vollkommener zu geſtalten. Wir werden offenbar einen großen
Schritt in der Erkenntniß der Natur thun, wenn wir dieſe teleologiſche
und anthropomorphe Vorſtellung zuruͤckweiſen, und die beiden Geſetze
der Arbeitstheilung und Vervollkommnung als nothwendige Folgen
der natuͤrlichen Zuͤchtung im Kampfe um’s Daſein nachweiſen koͤnnen.
Das erſte große Geſetz, welches unmittelbar und mit Nothwen-
digkeit aus der natuͤrlichen Zuͤchtung folgt, iſt dasjenige der Sonde-
rung oder Differenzirung, welche man auch haͤufig als Ar-
beitstheilung oder Polymorphismus bezeichnet, und welche
Darwin als Divergenz des Charakters erlaͤutert. (Gen.
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 217. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/238>, abgerufen am 25.11.2024.
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