Wir gingen bei der Betrachtung des Kampfes um's Dasein von der Thatsache aus, daß die Zahl der Keime, welche alle Thiere und Pflanzen erzeugen, unendlich viel größer ist, als die Zahl der Jndividuen, welche wirklich in das Leben treten und sich längere oder kürzere Zeit am Leben erhalten können. Die meisten Organismen erzeugen während ihres Lebens Tausende oder Millionen von Keimen, aus deren jedem sich unter günstigen Umständen ein neues Jndividuum entwickeln könnte. Bei den meisten Thieren sind diese Keime Eier, bei den mei- sten Pflanzen den Eiern entsprechende Zellen (Embryobläschen), welche zu ihrer weiteren Entwickelung der geschlechtlichen Befruchtung bedürfen. Dagegen bei den Protisten, niedersten Organismen, welche weder Thiere noch Pflanzen sind, und welche sich bloß ungeschlechtlich fort- pflanzen, bedürfen die Keimzellen oder Sporen keiner Befruchtung. Jn allen Fällen steht nun die Zahl sowohl dieser ungeschlechtlichen als jener geschlechtlichen Keime in gar keinem Verhältniß zu der Zahl der wirklich lebenden Jndividuen.
Jm Großen und Ganzen genommen bleibt die Zahl der leben- den Thiere und Pflanzen auf unserer Erde durchschnittlich immer die- selbe. Die Zahl der Stellen im Naturhaushalt ist beschränkt, und an den meisten Punkten der Erdoberfläche sind diese Stellen immer an- nähernd besetzt. Gewiß finden überall in jedem Jahre Schwankungen in der absoluten und in der relativen Jndividuenzahl aller Arten statt. Allein im Großen und Ganzen genommen werden diese Schwankun- gen nur geringe Bedeutung haben gegenüber der Thatsache, daß die Gesammtzahl aller Jndividuen durchschnittlich beinahe constant bleibt. Der Wechsel, der überall stattfindet, besteht darin, daß in einem Jahre diese und im andern Jahre jene Reihe von Thieren und Pflan- zen überwiegt, und daß in jedem Jahre der Kampf um's Dasein dieses Verhältniß wieder etwas anders gestaltet.
Jede einzelne Art von Thieren und Pflanzen würde in kurzer Zeit die ganze Erdoberfläche dicht bevölkert haben, wenn sie nicht mit einer Menge von Feinden und feindlichen Einflüssen zu kämpfen hätte. Schon Linne berechnete, daß wenn eine einjährige Pflanze nur zwei
Kampf ums Daſein.
Wir gingen bei der Betrachtung des Kampfes um’s Daſein von der Thatſache aus, daß die Zahl der Keime, welche alle Thiere und Pflanzen erzeugen, unendlich viel groͤßer iſt, als die Zahl der Jndividuen, welche wirklich in das Leben treten und ſich laͤngere oder kuͤrzere Zeit am Leben erhalten koͤnnen. Die meiſten Organismen erzeugen waͤhrend ihres Lebens Tauſende oder Millionen von Keimen, aus deren jedem ſich unter guͤnſtigen Umſtaͤnden ein neues Jndividuum entwickeln koͤnnte. Bei den meiſten Thieren ſind dieſe Keime Eier, bei den mei- ſten Pflanzen den Eiern entſprechende Zellen (Embryoblaͤschen), welche zu ihrer weiteren Entwickelung der geſchlechtlichen Befruchtung beduͤrfen. Dagegen bei den Protiſten, niederſten Organismen, welche weder Thiere noch Pflanzen ſind, und welche ſich bloß ungeſchlechtlich fort- pflanzen, beduͤrfen die Keimzellen oder Sporen keiner Befruchtung. Jn allen Faͤllen ſteht nun die Zahl ſowohl dieſer ungeſchlechtlichen als jener geſchlechtlichen Keime in gar keinem Verhaͤltniß zu der Zahl der wirklich lebenden Jndividuen.
Jm Großen und Ganzen genommen bleibt die Zahl der leben- den Thiere und Pflanzen auf unſerer Erde durchſchnittlich immer die- ſelbe. Die Zahl der Stellen im Naturhaushalt iſt beſchraͤnkt, und an den meiſten Punkten der Erdoberflaͤche ſind dieſe Stellen immer an- naͤhernd beſetzt. Gewiß finden uͤberall in jedem Jahre Schwankungen in der abſoluten und in der relativen Jndividuenzahl aller Arten ſtatt. Allein im Großen und Ganzen genommen werden dieſe Schwankun- gen nur geringe Bedeutung haben gegenuͤber der Thatſache, daß die Geſammtzahl aller Jndividuen durchſchnittlich beinahe conſtant bleibt. Der Wechſel, der uͤberall ſtattfindet, beſteht darin, daß in einem Jahre dieſe und im andern Jahre jene Reihe von Thieren und Pflan- zen uͤberwiegt, und daß in jedem Jahre der Kampf um’s Daſein dieſes Verhaͤltniß wieder etwas anders geſtaltet.
Jede einzelne Art von Thieren und Pflanzen wuͤrde in kurzer Zeit die ganze Erdoberflaͤche dicht bevoͤlkert haben, wenn ſie nicht mit einer Menge von Feinden und feindlichen Einfluͤſſen zu kaͤmpfen haͤtte. Schon Linné berechnete, daß wenn eine einjaͤhrige Pflanze nur zwei
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Kampf ums Daſein.
Wir gingen bei der Betrachtung des Kampfes um’s Daſein von
der Thatſache aus, daß die Zahl der Keime, welche alle Thiere und
Pflanzen erzeugen, unendlich viel groͤßer iſt, als die Zahl der Jndividuen,
welche wirklich in das Leben treten und ſich laͤngere oder kuͤrzere Zeit am
Leben erhalten koͤnnen. Die meiſten Organismen erzeugen waͤhrend
ihres Lebens Tauſende oder Millionen von Keimen, aus deren jedem
ſich unter guͤnſtigen Umſtaͤnden ein neues Jndividuum entwickeln
koͤnnte. Bei den meiſten Thieren ſind dieſe Keime Eier, bei den mei-
ſten Pflanzen den Eiern entſprechende Zellen (Embryoblaͤschen), welche
zu ihrer weiteren Entwickelung der geſchlechtlichen Befruchtung beduͤrfen.
Dagegen bei den Protiſten, niederſten Organismen, welche weder
Thiere noch Pflanzen ſind, und welche ſich bloß ungeſchlechtlich fort-
pflanzen, beduͤrfen die Keimzellen oder Sporen keiner Befruchtung.
Jn allen Faͤllen ſteht nun die Zahl ſowohl dieſer ungeſchlechtlichen als
jener geſchlechtlichen Keime in gar keinem Verhaͤltniß zu der Zahl der
wirklich lebenden Jndividuen.
Jm Großen und Ganzen genommen bleibt die Zahl der leben-
den Thiere und Pflanzen auf unſerer Erde durchſchnittlich immer die-
ſelbe. Die Zahl der Stellen im Naturhaushalt iſt beſchraͤnkt, und an
den meiſten Punkten der Erdoberflaͤche ſind dieſe Stellen immer an-
naͤhernd beſetzt. Gewiß finden uͤberall in jedem Jahre Schwankungen
in der abſoluten und in der relativen Jndividuenzahl aller Arten ſtatt.
Allein im Großen und Ganzen genommen werden dieſe Schwankun-
gen nur geringe Bedeutung haben gegenuͤber der Thatſache, daß die
Geſammtzahl aller Jndividuen durchſchnittlich beinahe conſtant bleibt.
Der Wechſel, der uͤberall ſtattfindet, beſteht darin, daß in einem
Jahre dieſe und im andern Jahre jene Reihe von Thieren und Pflan-
zen uͤberwiegt, und daß in jedem Jahre der Kampf um’s Daſein
dieſes Verhaͤltniß wieder etwas anders geſtaltet.
Jede einzelne Art von Thieren und Pflanzen wuͤrde in kurzer
Zeit die ganze Erdoberflaͤche dicht bevoͤlkert haben, wenn ſie nicht mit
einer Menge von Feinden und feindlichen Einfluͤſſen zu kaͤmpfen haͤtte.
Schon Linné berechnete, daß wenn eine einjaͤhrige Pflanze nur zwei
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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 205. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/226>, abgerufen am 26.11.2024.
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