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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Künstliche und natürliche Züchtung.
dieser beiden Bildungstriebe (oder physiologischen Functionen) über
den anderen erlangt hat.

Wenn wir nun zurückkehren zu der Betrachtung des Züchtungs-
vorgangs, der Auslese oder Selection, die wir bereits im siebenten Vor-
trag (S. 118) in ihren Grundzügen untersuchten, so werden wir jetzt
um so klarer und bestimmter erkennen, daß sowohl die künstliche als
die natürliche Züchtung einzig und allein auf der Wechselwirkung dieser
beiden Functionen oder Bildungstriebe beruhen. Wenn Sie die Thätig-
keit des künstlichen Züchters, des Landwirths oder Gärtners, scharf in's
Auge fassen, so erkennen Sie, daß nur jene beiden Bildungstriebe von
ihm zur Hervorbringung neuer Formen benutzt werden. Die ganze
Kunst der künstlichen Zuchtwahl beruht eben nur auf einer denkenden
und vernünftigen Anwendung der Vererbungs- und Anpassungsgesetze,
auf einer kunstvollen und planmäßigen Benutzung und Regulirung
derselben. Dabei ist der vervollkommnete menschliche Wille die aus-
lesende, züchtende Kraft.

Ganz ähnlich verhält sich die natürliche Züchtung. Auch diese
benutzt bloß jene beiden organischen Bildungstriebe, jene physiologi-
schen Grundeigenschaften der Anpassung und Vererbung, um die ver-
schiedenen Arten oder Species hervorzubringen. Dasjenige züchtende
Princip aber, diejenige auslesende Kraft, welche bei der künstlichen
Züchtung durch den planmäßig wirkenden und bewußten Willen des
Menschen
vertreten wird, ist bei der natürlichen Züchtung der
planlos wirkende und unbewußte Kampf um's Dasein. Was wir
unter "Kampf um's Dasein" verstehen, haben wir im siebenten Vor-
trage bereits auseinandergesetzt. Es ist gerade die Erkenntniß dieses
äußerst wichtigen Verhältnisses eines der größten Verdienste Dar-
win's.
Da aber dieses Verhältniß sehr häufig unvollkommen oder
falsch verstanden wird, ist es nothwendig, dasselbe jetzt noch näher in's
Auge zu fassen, und an einigen Beispielen die Wirksamkeit des Kampfes
um's Dasein, die Thätigkeit der natürlichen Züchtung durch den
Kampf um's Dasein zu erläutern. (Gen. Morph. II., 231).

Kuͤnſtliche und natuͤrliche Zuͤchtung.
dieſer beiden Bildungstriebe (oder phyſiologiſchen Functionen) uͤber
den anderen erlangt hat.

Wenn wir nun zuruͤckkehren zu der Betrachtung des Zuͤchtungs-
vorgangs, der Ausleſe oder Selection, die wir bereits im ſiebenten Vor-
trag (S. 118) in ihren Grundzuͤgen unterſuchten, ſo werden wir jetzt
um ſo klarer und beſtimmter erkennen, daß ſowohl die kuͤnſtliche als
die natuͤrliche Zuͤchtung einzig und allein auf der Wechſelwirkung dieſer
beiden Functionen oder Bildungstriebe beruhen. Wenn Sie die Thaͤtig-
keit des kuͤnſtlichen Zuͤchters, des Landwirths oder Gaͤrtners, ſcharf in’s
Auge faſſen, ſo erkennen Sie, daß nur jene beiden Bildungstriebe von
ihm zur Hervorbringung neuer Formen benutzt werden. Die ganze
Kunſt der kuͤnſtlichen Zuchtwahl beruht eben nur auf einer denkenden
und vernuͤnftigen Anwendung der Vererbungs- und Anpaſſungsgeſetze,
auf einer kunſtvollen und planmaͤßigen Benutzung und Regulirung
derſelben. Dabei iſt der vervollkommnete menſchliche Wille die aus-
leſende, zuͤchtende Kraft.

Ganz aͤhnlich verhaͤlt ſich die natuͤrliche Zuͤchtung. Auch dieſe
benutzt bloß jene beiden organiſchen Bildungstriebe, jene phyſiologi-
ſchen Grundeigenſchaften der Anpaſſung und Vererbung, um die ver-
ſchiedenen Arten oder Species hervorzubringen. Dasjenige zuͤchtende
Princip aber, diejenige ausleſende Kraft, welche bei der kuͤnſtlichen
Zuͤchtung durch den planmaͤßig wirkenden und bewußten Willen des
Menſchen
vertreten wird, iſt bei der natuͤrlichen Zuͤchtung der
planlos wirkende und unbewußte Kampf um’s Daſein. Was wir
unter „Kampf um’s Daſein“ verſtehen, haben wir im ſiebenten Vor-
trage bereits auseinandergeſetzt. Es iſt gerade die Erkenntniß dieſes
aͤußerſt wichtigen Verhaͤltniſſes eines der groͤßten Verdienſte Dar-
win’s.
Da aber dieſes Verhaͤltniß ſehr haͤufig unvollkommen oder
falſch verſtanden wird, iſt es nothwendig, daſſelbe jetzt noch naͤher in’s
Auge zu faſſen, und an einigen Beiſpielen die Wirkſamkeit des Kampfes
um’s Daſein, die Thaͤtigkeit der natuͤrlichen Zuͤchtung durch den
Kampf um’s Daſein zu erlaͤutern. (Gen. Morph. II., 231).

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[204/0225] Kuͤnſtliche und natuͤrliche Zuͤchtung. dieſer beiden Bildungstriebe (oder phyſiologiſchen Functionen) uͤber den anderen erlangt hat. Wenn wir nun zuruͤckkehren zu der Betrachtung des Zuͤchtungs- vorgangs, der Ausleſe oder Selection, die wir bereits im ſiebenten Vor- trag (S. 118) in ihren Grundzuͤgen unterſuchten, ſo werden wir jetzt um ſo klarer und beſtimmter erkennen, daß ſowohl die kuͤnſtliche als die natuͤrliche Zuͤchtung einzig und allein auf der Wechſelwirkung dieſer beiden Functionen oder Bildungstriebe beruhen. Wenn Sie die Thaͤtig- keit des kuͤnſtlichen Zuͤchters, des Landwirths oder Gaͤrtners, ſcharf in’s Auge faſſen, ſo erkennen Sie, daß nur jene beiden Bildungstriebe von ihm zur Hervorbringung neuer Formen benutzt werden. Die ganze Kunſt der kuͤnſtlichen Zuchtwahl beruht eben nur auf einer denkenden und vernuͤnftigen Anwendung der Vererbungs- und Anpaſſungsgeſetze, auf einer kunſtvollen und planmaͤßigen Benutzung und Regulirung derſelben. Dabei iſt der vervollkommnete menſchliche Wille die aus- leſende, zuͤchtende Kraft. Ganz aͤhnlich verhaͤlt ſich die natuͤrliche Zuͤchtung. Auch dieſe benutzt bloß jene beiden organiſchen Bildungstriebe, jene phyſiologi- ſchen Grundeigenſchaften der Anpaſſung und Vererbung, um die ver- ſchiedenen Arten oder Species hervorzubringen. Dasjenige zuͤchtende Princip aber, diejenige ausleſende Kraft, welche bei der kuͤnſtlichen Zuͤchtung durch den planmaͤßig wirkenden und bewußten Willen des Menſchen vertreten wird, iſt bei der natuͤrlichen Zuͤchtung der planlos wirkende und unbewußte Kampf um’s Daſein. Was wir unter „Kampf um’s Daſein“ verſtehen, haben wir im ſiebenten Vor- trage bereits auseinandergeſetzt. Es iſt gerade die Erkenntniß dieſes aͤußerſt wichtigen Verhaͤltniſſes eines der groͤßten Verdienſte Dar- win’s. Da aber dieſes Verhaͤltniß ſehr haͤufig unvollkommen oder falſch verſtanden wird, iſt es nothwendig, daſſelbe jetzt noch naͤher in’s Auge zu faſſen, und an einigen Beiſpielen die Wirkſamkeit des Kampfes um’s Daſein, die Thaͤtigkeit der natuͤrlichen Zuͤchtung durch den Kampf um’s Daſein zu erlaͤutern. (Gen. Morph. II., 231).

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 204. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/225>, abgerufen am 27.11.2024.