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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Wechselbezügliche oder correlative Anpassung.
wie bei allen übrigen Wirbelthieren, sind in der ursprünglichen Anlage
des Keims die männlichen und weiblichen Organe völlig gleich, und
erst allmählich entstehen im Laufe der embryonalen Entwickelung (beim
Menschen in der neunten Woche seines Embryolebens) die Unterschiede
der beiden Geschlechter, indem eine und dieselbe Sexualdrüse beim
Weibe zum Eierstock, beim Manne zum Testikel wird. Jede Verän-
derung des weiblichen Eierstocks äußert daher eine nicht minder bedeu-
tende Rückwirkung auf den gesammten weiblichen Organismus, wie
jede Veränderung des Testikels auf den männlichen Organismus.
Die Wichtigkeit dieser Wechselbeziehung hat Virchow in seinem vor-
trefflichen Aufsatz "das Weib und die Zelle" mit folgenden Worten
ausgesprochen: "Das Weib ist eben Weib nur durch seine Genera-
tionsdrüse; alle Eigenthümlichkeiten seines Körpers und Geistes oder
seiner Ernährung und Nerventhätigkeit: die süße Zartheit und Run-
dung der Glieder bei der eigenthümlichen Ausbildung des Beckens,
die Entwickelung der Brüste bei dem Stehenbleiben der Stimmorgane,
jener schöne Schmuck des Kopfhaares bei dem kaum merklichen, wei-
chen Flaum der übrigen Haut, und dann wiederum diese Tiefe
des Gefühls, diese Wahrheit der unmittelbaren Anschauung, diese
Sanftmuth, Hingebung und Treue -- kurz, Alles was wir an dem
wahren Weibe Weibliches bewundern und verehren, ist nur eine De-
pendenz des Eierstocks. Man nehme den Eierstock hinweg, und das
Mannweib in seiner häßlichsten Halbheit steht vor uns."

Dieselbe innige Correlation oder Wechselbeziehung zwischen den
Geschlechtsorganen und den übrigen Körpertheilen findet sich auch bei
den Pflanzen eben so allgemein wie bei den Thieren vor. Wenn man
bei einer Gartenpflanze reichlichere Früchte zu erzielen wünscht, be-
schränkt man den Blätterwuchs durch Abschneiden eines Theils der
Blätter. Wünscht man umgekehrt eine Zierpflanze mit einer Fülle
von großen und schönen Blättern zu erhalten, so verhindert man die
Blüthen- und Fruchtbildung durch Abschneiden der Blüthenknospen.
Jn beiden Fällen entwickelt sich das eine Organsystem auf Kosten des
anderen. So ziehen auch die meisten Abänderungen der vegetativen

Wechſelbezuͤgliche oder correlative Anpaſſung.
wie bei allen uͤbrigen Wirbelthieren, ſind in der urſpruͤnglichen Anlage
des Keims die maͤnnlichen und weiblichen Organe voͤllig gleich, und
erſt allmaͤhlich entſtehen im Laufe der embryonalen Entwickelung (beim
Menſchen in der neunten Woche ſeines Embryolebens) die Unterſchiede
der beiden Geſchlechter, indem eine und dieſelbe Sexualdruͤſe beim
Weibe zum Eierſtock, beim Manne zum Teſtikel wird. Jede Veraͤn-
derung des weiblichen Eierſtocks aͤußert daher eine nicht minder bedeu-
tende Ruͤckwirkung auf den geſammten weiblichen Organismus, wie
jede Veraͤnderung des Teſtikels auf den maͤnnlichen Organismus.
Die Wichtigkeit dieſer Wechſelbeziehung hat Virchow in ſeinem vor-
trefflichen Aufſatz „das Weib und die Zelle“ mit folgenden Worten
ausgeſprochen: „Das Weib iſt eben Weib nur durch ſeine Genera-
tionsdruͤſe; alle Eigenthuͤmlichkeiten ſeines Koͤrpers und Geiſtes oder
ſeiner Ernaͤhrung und Nerventhaͤtigkeit: die ſuͤße Zartheit und Run-
dung der Glieder bei der eigenthuͤmlichen Ausbildung des Beckens,
die Entwickelung der Bruͤſte bei dem Stehenbleiben der Stimmorgane,
jener ſchoͤne Schmuck des Kopfhaares bei dem kaum merklichen, wei-
chen Flaum der uͤbrigen Haut, und dann wiederum dieſe Tiefe
des Gefuͤhls, dieſe Wahrheit der unmittelbaren Anſchauung, dieſe
Sanftmuth, Hingebung und Treue — kurz, Alles was wir an dem
wahren Weibe Weibliches bewundern und verehren, iſt nur eine De-
pendenz des Eierſtocks. Man nehme den Eierſtock hinweg, und das
Mannweib in ſeiner haͤßlichſten Halbheit ſteht vor uns.“

Dieſelbe innige Correlation oder Wechſelbeziehung zwiſchen den
Geſchlechtsorganen und den uͤbrigen Koͤrpertheilen findet ſich auch bei
den Pflanzen eben ſo allgemein wie bei den Thieren vor. Wenn man
bei einer Gartenpflanze reichlichere Fruͤchte zu erzielen wuͤnſcht, be-
ſchraͤnkt man den Blaͤtterwuchs durch Abſchneiden eines Theils der
Blaͤtter. Wuͤnſcht man umgekehrt eine Zierpflanze mit einer Fuͤlle
von großen und ſchoͤnen Blaͤttern zu erhalten, ſo verhindert man die
Bluͤthen- und Fruchtbildung durch Abſchneiden der Bluͤthenknospen.
Jn beiden Faͤllen entwickelt ſich das eine Organſyſtem auf Koſten des
anderen. So ziehen auch die meiſten Abaͤnderungen der vegetativen

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[196/0217] Wechſelbezuͤgliche oder correlative Anpaſſung. wie bei allen uͤbrigen Wirbelthieren, ſind in der urſpruͤnglichen Anlage des Keims die maͤnnlichen und weiblichen Organe voͤllig gleich, und erſt allmaͤhlich entſtehen im Laufe der embryonalen Entwickelung (beim Menſchen in der neunten Woche ſeines Embryolebens) die Unterſchiede der beiden Geſchlechter, indem eine und dieſelbe Sexualdruͤſe beim Weibe zum Eierſtock, beim Manne zum Teſtikel wird. Jede Veraͤn- derung des weiblichen Eierſtocks aͤußert daher eine nicht minder bedeu- tende Ruͤckwirkung auf den geſammten weiblichen Organismus, wie jede Veraͤnderung des Teſtikels auf den maͤnnlichen Organismus. Die Wichtigkeit dieſer Wechſelbeziehung hat Virchow in ſeinem vor- trefflichen Aufſatz „das Weib und die Zelle“ mit folgenden Worten ausgeſprochen: „Das Weib iſt eben Weib nur durch ſeine Genera- tionsdruͤſe; alle Eigenthuͤmlichkeiten ſeines Koͤrpers und Geiſtes oder ſeiner Ernaͤhrung und Nerventhaͤtigkeit: die ſuͤße Zartheit und Run- dung der Glieder bei der eigenthuͤmlichen Ausbildung des Beckens, die Entwickelung der Bruͤſte bei dem Stehenbleiben der Stimmorgane, jener ſchoͤne Schmuck des Kopfhaares bei dem kaum merklichen, wei- chen Flaum der uͤbrigen Haut, und dann wiederum dieſe Tiefe des Gefuͤhls, dieſe Wahrheit der unmittelbaren Anſchauung, dieſe Sanftmuth, Hingebung und Treue — kurz, Alles was wir an dem wahren Weibe Weibliches bewundern und verehren, iſt nur eine De- pendenz des Eierſtocks. Man nehme den Eierſtock hinweg, und das Mannweib in ſeiner haͤßlichſten Halbheit ſteht vor uns.“ Dieſelbe innige Correlation oder Wechſelbeziehung zwiſchen den Geſchlechtsorganen und den uͤbrigen Koͤrpertheilen findet ſich auch bei den Pflanzen eben ſo allgemein wie bei den Thieren vor. Wenn man bei einer Gartenpflanze reichlichere Fruͤchte zu erzielen wuͤnſcht, be- ſchraͤnkt man den Blaͤtterwuchs durch Abſchneiden eines Theils der Blaͤtter. Wuͤnſcht man umgekehrt eine Zierpflanze mit einer Fuͤlle von großen und ſchoͤnen Blaͤttern zu erhalten, ſo verhindert man die Bluͤthen- und Fruchtbildung durch Abſchneiden der Bluͤthenknospen. Jn beiden Faͤllen entwickelt ſich das eine Organſyſtem auf Koſten des anderen. So ziehen auch die meiſten Abaͤnderungen der vegetativen

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 196. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/217>, abgerufen am 27.11.2024.