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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Gehäufte oder cumulative Anpassung.
pferde und Karrengaule. Die Körperform des Menschen selbst, der
Grad der Fettablagerung z. B., ist ganz verschieden nach der Nah-
rung. Bei stickstoffreicher Kost wird wenig, bei stickstoffarmer Kost
viel Fett abgelagert. Leute, die nach der neuerdings beliebten Ban-
ting-Cur mager werden wollen, essen nur Fleisch und Eier, kein Brod,
keine Kartoffeln. Welche bedeutenden Veränderungen man an Cul-
turpflanzen hervorbringen kann, lediglich durch veränderte Quantität
und Qualität der Nahrung, ist allbekannt. Dieselbe Pflanze erhält
ein ganz anderes Aussehen, wenn man sie an einem trockenen, war-
men Ort dem Sonnenlicht ausgesetzt hält, oder wenn man sie an
einer kühlen, feuchten Stelle im Schatten hält. Viele Pflanzen be-
kommen, wenn man sie an den Meeresstrand versetzt, nach einiger
Zeit dicke, fleischige Blätter, und dieselben Pflanzen, an ausnehmend
trockene und heiße Standorte versetzt, bekommen behaarte Blätter.
Alle diese Formveränderungen entstehen unmittelbar durch den ge-
häuften Einfluß der veränderten Nahrung.

Aber nicht nur die Quantität und Qualität der Nahrungsmittel
wirkt mächtig verändernd und umbildend auf den Organismus ein,
sondern auch alle anderen äußeren Existenzbedingungen, vor Allen
die nächste organische Umgebung, die Gesellschaft von freundlichen
oder feindlichen Organismen. Ein und dasselbe Pferd oder Rind ent-
wickelt sich ganz anders, wenn es das Jahr hindurch im Stalle steht,
als wenn es den Sommer über frei in Wald und Wiese umherstreift.
Ein und derselbe Baum entwickelt sich ganz verschieden an einem offe-
nen Standort, wo er von allen Seiten frei steht, als im Walde, wo
er sich den Umgebungen anpassen muß, wo er von den nächsten Nach-
barn gedrängt und zum Emporschießen gezwungen wird. Jm ersten
Fall wird die Krone weit ausgebreitet, im letzten dehnt sich der
Stamm in die Höhe und die Krone bleibt klein und gedrungen. Wie
mächtig alle diese Umstände, wie mächtig der feindliche oder freund-
liche Einfluß der umgebenden Organismen, der Parasiten u. s. w.
auf jedes Thier und jede Pflanze einwirken, ist so bekannt, daß eine
Anführung weiterer Beispiele überflüssig erscheint. Die Veränderung

Gehaͤufte oder cumulative Anpaſſung.
pferde und Karrengaule. Die Koͤrperform des Menſchen ſelbſt, der
Grad der Fettablagerung z. B., iſt ganz verſchieden nach der Nah-
rung. Bei ſtickſtoffreicher Koſt wird wenig, bei ſtickſtoffarmer Koſt
viel Fett abgelagert. Leute, die nach der neuerdings beliebten Ban-
ting-Cur mager werden wollen, eſſen nur Fleiſch und Eier, kein Brod,
keine Kartoffeln. Welche bedeutenden Veraͤnderungen man an Cul-
turpflanzen hervorbringen kann, lediglich durch veraͤnderte Quantitaͤt
und Qualitaͤt der Nahrung, iſt allbekannt. Dieſelbe Pflanze erhaͤlt
ein ganz anderes Ausſehen, wenn man ſie an einem trockenen, war-
men Ort dem Sonnenlicht ausgeſetzt haͤlt, oder wenn man ſie an
einer kuͤhlen, feuchten Stelle im Schatten haͤlt. Viele Pflanzen be-
kommen, wenn man ſie an den Meeresſtrand verſetzt, nach einiger
Zeit dicke, fleiſchige Blaͤtter, und dieſelben Pflanzen, an ausnehmend
trockene und heiße Standorte verſetzt, bekommen behaarte Blaͤtter.
Alle dieſe Formveraͤnderungen entſtehen unmittelbar durch den ge-
haͤuften Einfluß der veraͤnderten Nahrung.

Aber nicht nur die Quantitaͤt und Qualitaͤt der Nahrungsmittel
wirkt maͤchtig veraͤndernd und umbildend auf den Organismus ein,
ſondern auch alle anderen aͤußeren Exiſtenzbedingungen, vor Allen
die naͤchſte organiſche Umgebung, die Geſellſchaft von freundlichen
oder feindlichen Organismen. Ein und daſſelbe Pferd oder Rind ent-
wickelt ſich ganz anders, wenn es das Jahr hindurch im Stalle ſteht,
als wenn es den Sommer uͤber frei in Wald und Wieſe umherſtreift.
Ein und derſelbe Baum entwickelt ſich ganz verſchieden an einem offe-
nen Standort, wo er von allen Seiten frei ſteht, als im Walde, wo
er ſich den Umgebungen anpaſſen muß, wo er von den naͤchſten Nach-
barn gedraͤngt und zum Emporſchießen gezwungen wird. Jm erſten
Fall wird die Krone weit ausgebreitet, im letzten dehnt ſich der
Stamm in die Hoͤhe und die Krone bleibt klein und gedrungen. Wie
maͤchtig alle dieſe Umſtaͤnde, wie maͤchtig der feindliche oder freund-
liche Einfluß der umgebenden Organismen, der Paraſiten u. ſ. w.
auf jedes Thier und jede Pflanze einwirken, iſt ſo bekannt, daß eine
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[188/0209] Gehaͤufte oder cumulative Anpaſſung. pferde und Karrengaule. Die Koͤrperform des Menſchen ſelbſt, der Grad der Fettablagerung z. B., iſt ganz verſchieden nach der Nah- rung. Bei ſtickſtoffreicher Koſt wird wenig, bei ſtickſtoffarmer Koſt viel Fett abgelagert. Leute, die nach der neuerdings beliebten Ban- ting-Cur mager werden wollen, eſſen nur Fleiſch und Eier, kein Brod, keine Kartoffeln. Welche bedeutenden Veraͤnderungen man an Cul- turpflanzen hervorbringen kann, lediglich durch veraͤnderte Quantitaͤt und Qualitaͤt der Nahrung, iſt allbekannt. Dieſelbe Pflanze erhaͤlt ein ganz anderes Ausſehen, wenn man ſie an einem trockenen, war- men Ort dem Sonnenlicht ausgeſetzt haͤlt, oder wenn man ſie an einer kuͤhlen, feuchten Stelle im Schatten haͤlt. Viele Pflanzen be- kommen, wenn man ſie an den Meeresſtrand verſetzt, nach einiger Zeit dicke, fleiſchige Blaͤtter, und dieſelben Pflanzen, an ausnehmend trockene und heiße Standorte verſetzt, bekommen behaarte Blaͤtter. Alle dieſe Formveraͤnderungen entſtehen unmittelbar durch den ge- haͤuften Einfluß der veraͤnderten Nahrung. Aber nicht nur die Quantitaͤt und Qualitaͤt der Nahrungsmittel wirkt maͤchtig veraͤndernd und umbildend auf den Organismus ein, ſondern auch alle anderen aͤußeren Exiſtenzbedingungen, vor Allen die naͤchſte organiſche Umgebung, die Geſellſchaft von freundlichen oder feindlichen Organismen. Ein und daſſelbe Pferd oder Rind ent- wickelt ſich ganz anders, wenn es das Jahr hindurch im Stalle ſteht, als wenn es den Sommer uͤber frei in Wald und Wieſe umherſtreift. Ein und derſelbe Baum entwickelt ſich ganz verſchieden an einem offe- nen Standort, wo er von allen Seiten frei ſteht, als im Walde, wo er ſich den Umgebungen anpaſſen muß, wo er von den naͤchſten Nach- barn gedraͤngt und zum Emporſchießen gezwungen wird. Jm erſten Fall wird die Krone weit ausgebreitet, im letzten dehnt ſich der Stamm in die Hoͤhe und die Krone bleibt klein und gedrungen. Wie maͤchtig alle dieſe Umſtaͤnde, wie maͤchtig der feindliche oder freund- liche Einfluß der umgebenden Organismen, der Paraſiten u. ſ. w. auf jedes Thier und jede Pflanze einwirken, iſt ſo bekannt, daß eine Anfuͤhrung weiterer Beiſpiele uͤberfluͤſſig erſcheint. Die Veraͤnderung

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/209>, abgerufen am 28.11.2024.