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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Gesetze der fortschreitenden oder progressiven Vererbung.
thiere uns darbietet. Zu diesen Vorfahren gehören gewisse Fische,
Amphibien, Beutelthiere u. s. w. Allein der Parallelismus oder die
Uebereinstimmung dieser beiden Entwickelungsreihen ist niemals ganz
vollständig. Vielmehr sind in der Ontogenie immer Lücken und
Sprünge, welche dem Ausfall einzelner Stadien der Phylogenie ent-
sprechen. Wie Fritz Müller in seiner ausgezeichneten Schrift
"Für Darwin" 16) an dem Beispiel der Crustaceen oder Krebse
vortrefflich erläutert hat "wird die in der individuellen Entwickelungs-
geschichte erhaltene geschichtliche Urkunde allmählich verwischt, indem
die Entwickelung einen immer geraderen Weg vom Ei zum fertigen
Thiere einschlägt." Diese Verwischung oder Abkürzung wird durch
das Gesetz der abgekürzten Vererbung bedingt, und ich will dasselbe
hier deshalb besonders hervorheben, weil es von großer Bedeutung
für das Verständniß der Embryologie ist, und die anfangs befrem-
dende Thatsache erklärt, daß nicht alle Entwickelungsformen, welche
unsere Stammeltern durchlaufen haben, in der Formenreihe unserer
eigenen individuellen Entwickelung noch sichtbar sind.

Den bisher erörterten Gesetzen der erhaltenden oder conserva-
tiven Vererbung stehen nun gegenüber die Vererbungserscheinungen
der zweiten Reihe, die Gesetze der fortschreitenden oder pro-
gressiven Vererbung.
Sie beruhen, wie erwähnt, darauf, daß
der Organismus nicht allein diejenigen Eigenschaften auf seine Nach-
kommen überträgt, die er bereits von den Voreltern ererbt hat, sondern
auch eine Anzahl von denjenigen individuellen Eigenthümlichkeiten,
welche er selbst erst während seines Lebens erworben hat. Die Anpassung
verbindet sich hier bereits mit der Vererbung. (Gen. Morph. II, 186).

Unter diesen wichtigen Erscheinungen der fortschreitenden oder
progressiven Vererbung können wir an die Spitze als das allgemeinste
das Gesetz der angepaßten oder erworbenen Verer-
bung
stellen. Dasselbe besagt eigentlich weiter Nichts, als was ich
eben schon aussprach, daß unter bestimmten Umständen der Organis-
mus fähig ist, alle Eigenschaften auf seine Nachkommen zu vererben,
welche er selbst erst während seines Lebens durch Anpassung erworben

Geſetze der fortſchreitenden oder progreſſiven Vererbung.
thiere uns darbietet. Zu dieſen Vorfahren gehoͤren gewiſſe Fiſche,
Amphibien, Beutelthiere u. ſ. w. Allein der Parallelismus oder die
Uebereinſtimmung dieſer beiden Entwickelungsreihen iſt niemals ganz
vollſtaͤndig. Vielmehr ſind in der Ontogenie immer Luͤcken und
Spruͤnge, welche dem Ausfall einzelner Stadien der Phylogenie ent-
ſprechen. Wie Fritz Muͤller in ſeiner ausgezeichneten Schrift
Fuͤr Darwin16) an dem Beiſpiel der Cruſtaceen oder Krebſe
vortrefflich erlaͤutert hat „wird die in der individuellen Entwickelungs-
geſchichte erhaltene geſchichtliche Urkunde allmaͤhlich verwiſcht, indem
die Entwickelung einen immer geraderen Weg vom Ei zum fertigen
Thiere einſchlaͤgt.“ Dieſe Verwiſchung oder Abkuͤrzung wird durch
das Geſetz der abgekuͤrzten Vererbung bedingt, und ich will daſſelbe
hier deshalb beſonders hervorheben, weil es von großer Bedeutung
fuͤr das Verſtaͤndniß der Embryologie iſt, und die anfangs befrem-
dende Thatſache erklaͤrt, daß nicht alle Entwickelungsformen, welche
unſere Stammeltern durchlaufen haben, in der Formenreihe unſerer
eigenen individuellen Entwickelung noch ſichtbar ſind.

Den bisher eroͤrterten Geſetzen der erhaltenden oder conſerva-
tiven Vererbung ſtehen nun gegenuͤber die Vererbungserſcheinungen
der zweiten Reihe, die Geſetze der fortſchreitenden oder pro-
greſſiven Vererbung.
Sie beruhen, wie erwaͤhnt, darauf, daß
der Organismus nicht allein diejenigen Eigenſchaften auf ſeine Nach-
kommen uͤbertraͤgt, die er bereits von den Voreltern ererbt hat, ſondern
auch eine Anzahl von denjenigen individuellen Eigenthuͤmlichkeiten,
welche er ſelbſt erſt waͤhrend ſeines Lebens erworben hat. Die Anpaſſung
verbindet ſich hier bereits mit der Vererbung. (Gen. Morph. II, 186).

Unter dieſen wichtigen Erſcheinungen der fortſchreitenden oder
progreſſiven Vererbung koͤnnen wir an die Spitze als das allgemeinſte
das Geſetz der angepaßten oder erworbenen Verer-
bung
ſtellen. Daſſelbe beſagt eigentlich weiter Nichts, als was ich
eben ſchon ausſprach, daß unter beſtimmten Umſtaͤnden der Organis-
mus faͤhig iſt, alle Eigenſchaften auf ſeine Nachkommen zu vererben,
welche er ſelbſt erſt waͤhrend ſeines Lebens durch Anpaſſung erworben

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[167/0188] Geſetze der fortſchreitenden oder progreſſiven Vererbung. thiere uns darbietet. Zu dieſen Vorfahren gehoͤren gewiſſe Fiſche, Amphibien, Beutelthiere u. ſ. w. Allein der Parallelismus oder die Uebereinſtimmung dieſer beiden Entwickelungsreihen iſt niemals ganz vollſtaͤndig. Vielmehr ſind in der Ontogenie immer Luͤcken und Spruͤnge, welche dem Ausfall einzelner Stadien der Phylogenie ent- ſprechen. Wie Fritz Muͤller in ſeiner ausgezeichneten Schrift „Fuͤr Darwin“ 16) an dem Beiſpiel der Cruſtaceen oder Krebſe vortrefflich erlaͤutert hat „wird die in der individuellen Entwickelungs- geſchichte erhaltene geſchichtliche Urkunde allmaͤhlich verwiſcht, indem die Entwickelung einen immer geraderen Weg vom Ei zum fertigen Thiere einſchlaͤgt.“ Dieſe Verwiſchung oder Abkuͤrzung wird durch das Geſetz der abgekuͤrzten Vererbung bedingt, und ich will daſſelbe hier deshalb beſonders hervorheben, weil es von großer Bedeutung fuͤr das Verſtaͤndniß der Embryologie iſt, und die anfangs befrem- dende Thatſache erklaͤrt, daß nicht alle Entwickelungsformen, welche unſere Stammeltern durchlaufen haben, in der Formenreihe unſerer eigenen individuellen Entwickelung noch ſichtbar ſind. Den bisher eroͤrterten Geſetzen der erhaltenden oder conſerva- tiven Vererbung ſtehen nun gegenuͤber die Vererbungserſcheinungen der zweiten Reihe, die Geſetze der fortſchreitenden oder pro- greſſiven Vererbung. Sie beruhen, wie erwaͤhnt, darauf, daß der Organismus nicht allein diejenigen Eigenſchaften auf ſeine Nach- kommen uͤbertraͤgt, die er bereits von den Voreltern ererbt hat, ſondern auch eine Anzahl von denjenigen individuellen Eigenthuͤmlichkeiten, welche er ſelbſt erſt waͤhrend ſeines Lebens erworben hat. Die Anpaſſung verbindet ſich hier bereits mit der Vererbung. (Gen. Morph. II, 186). Unter dieſen wichtigen Erſcheinungen der fortſchreitenden oder progreſſiven Vererbung koͤnnen wir an die Spitze als das allgemeinſte das Geſetz der angepaßten oder erworbenen Verer- bung ſtellen. Daſſelbe beſagt eigentlich weiter Nichts, als was ich eben ſchon ausſprach, daß unter beſtimmten Umſtaͤnden der Organis- mus faͤhig iſt, alle Eigenſchaften auf ſeine Nachkommen zu vererben, welche er ſelbſt erſt waͤhrend ſeines Lebens durch Anpaſſung erworben

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 167. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/188>, abgerufen am 26.11.2024.