Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

Unterscheidung der erhaltenden und fortschreitenden Vererbung.
Ursachen, auf Anziehungs- und Abstoßungsverhältnisse der Stoff-
theilchen, auf Bewegungserscheinungen der Materie zurückzufüh-
ren sind.

Bevor wir nun zur zweiten, der Vererbung entgegenwirkenden
Function, der Erscheinung der Anpassung oder Abänderung übergehen,
erscheint es zweckmäßig, zuvor noch einen Blick auf die verschiedenen
Aeußerungsweisen der Erblichkeit zu werfen, welche man vielleicht
schon jetzt als "Vererbungsgesetze" aufstellen kann. Leider ist
für diesen so außerordentlich wichtigen Gegenstand sowohl in der Zoolo-
gie, als auch in der Botanik, bisher nur sehr Wenig geschehen, und fast
Alles, was man von den verschiedenen Vererbungsgesetzen weiß, beruht
auf den Erfahrungen der Landwirthe und der Gärtner. Daher ist es
nicht zu verwundern, daß im Ganzen diese äußerst interessanten und
wichtigen Erscheinungen nicht mit der wünschenswerthen wissenschaft-
lichen Schärfe untersucht und in die Form von naturwissenschaftlichen
Gesetzen gebracht worden sind. Was ich Jhnen demnach im Folgen-
den von den verschiedenen Vererbungsgesetzen mittheilen werde, sind
nur einige Bruchstücke, die vorläufig aus dem unendlich reichen Schatz,
welcher für die Erkenntniß hier offen liegt, herausgenommen werden.

Wir können zunächst alle verschiedenen Erblichkeitserscheinungen
in zwei Gruppen bringen, welche wir als Vererbung ererbter Cha-
ractere und Vererbung erworbener Charactere unterscheiden; und
wir können die erstere als die erhaltende (conservative) Vererbung,
die zweite als die fortschreitende (progressive) Vererbung bezeich-
nen. Diese Unterscheidung beruht auf der äußerst wichtigen Thatsache,
daß die Einzelwesen einer jeden Art von Thieren und Pflanzen nicht
allein diejenigen Eigenschaften auf ihre Nachkommen vererben können,
welche sie selbst von ihren Vorfahren ererbt haben, sondern auch die
eigenthümlichen, individuellen Eigenschaften, die sie erst während ihres
Lebens erworben haben. Diese letzteren werden durch die fortschrei-
tende, die ersteren durch die erhaltende Erblichkeit übertragen. Zu-
nächst haben wir nun hier die Erscheinungen der conservativen
oder erhaltenden Vererbung
zu untersuchen, d. h. der Verer-

Unterſcheidung der erhaltenden und fortſchreitenden Vererbung.
Urſachen, auf Anziehungs- und Abſtoßungsverhaͤltniſſe der Stoff-
theilchen, auf Bewegungserſcheinungen der Materie zuruͤckzufuͤh-
ren ſind.

Bevor wir nun zur zweiten, der Vererbung entgegenwirkenden
Function, der Erſcheinung der Anpaſſung oder Abaͤnderung uͤbergehen,
erſcheint es zweckmaͤßig, zuvor noch einen Blick auf die verſchiedenen
Aeußerungsweiſen der Erblichkeit zu werfen, welche man vielleicht
ſchon jetzt als „Vererbungsgeſetze“ aufſtellen kann. Leider iſt
fuͤr dieſen ſo außerordentlich wichtigen Gegenſtand ſowohl in der Zoolo-
gie, als auch in der Botanik, bisher nur ſehr Wenig geſchehen, und faſt
Alles, was man von den verſchiedenen Vererbungsgeſetzen weiß, beruht
auf den Erfahrungen der Landwirthe und der Gaͤrtner. Daher iſt es
nicht zu verwundern, daß im Ganzen dieſe aͤußerſt intereſſanten und
wichtigen Erſcheinungen nicht mit der wuͤnſchenswerthen wiſſenſchaft-
lichen Schaͤrfe unterſucht und in die Form von naturwiſſenſchaftlichen
Geſetzen gebracht worden ſind. Was ich Jhnen demnach im Folgen-
den von den verſchiedenen Vererbungsgeſetzen mittheilen werde, ſind
nur einige Bruchſtuͤcke, die vorlaͤufig aus dem unendlich reichen Schatz,
welcher fuͤr die Erkenntniß hier offen liegt, herausgenommen werden.

Wir koͤnnen zunaͤchſt alle verſchiedenen Erblichkeitserſcheinungen
in zwei Gruppen bringen, welche wir als Vererbung ererbter Cha-
ractere und Vererbung erworbener Charactere unterſcheiden; und
wir koͤnnen die erſtere als die erhaltende (conſervative) Vererbung,
die zweite als die fortſchreitende (progreſſive) Vererbung bezeich-
nen. Dieſe Unterſcheidung beruht auf der aͤußerſt wichtigen Thatſache,
daß die Einzelweſen einer jeden Art von Thieren und Pflanzen nicht
allein diejenigen Eigenſchaften auf ihre Nachkommen vererben koͤnnen,
welche ſie ſelbſt von ihren Vorfahren ererbt haben, ſondern auch die
eigenthuͤmlichen, individuellen Eigenſchaften, die ſie erſt waͤhrend ihres
Lebens erworben haben. Dieſe letzteren werden durch die fortſchrei-
tende, die erſteren durch die erhaltende Erblichkeit uͤbertragen. Zu-
naͤchſt haben wir nun hier die Erſcheinungen der conſervativen
oder erhaltenden Vererbung
zu unterſuchen, d. h. der Verer-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0180" n="159"/><fw place="top" type="header">Unter&#x017F;cheidung der erhaltenden und fort&#x017F;chreitenden Vererbung.</fw><lb/>
Ur&#x017F;achen, auf Anziehungs- und Ab&#x017F;toßungsverha&#x0364;ltni&#x017F;&#x017F;e der Stoff-<lb/>
theilchen, auf Bewegungser&#x017F;cheinungen der Materie zuru&#x0364;ckzufu&#x0364;h-<lb/>
ren &#x017F;ind.</p><lb/>
        <p>Bevor wir nun zur zweiten, der Vererbung entgegenwirkenden<lb/>
Function, der Er&#x017F;cheinung der Anpa&#x017F;&#x017F;ung oder Aba&#x0364;nderung u&#x0364;bergehen,<lb/>
er&#x017F;cheint es zweckma&#x0364;ßig, zuvor noch einen Blick auf die ver&#x017F;chiedenen<lb/>
Aeußerungswei&#x017F;en der Erblichkeit zu werfen, welche man vielleicht<lb/>
&#x017F;chon jetzt als &#x201E;<hi rendition="#g">Vererbungsge&#x017F;etze</hi>&#x201C; auf&#x017F;tellen kann. Leider i&#x017F;t<lb/>
fu&#x0364;r die&#x017F;en &#x017F;o außerordentlich wichtigen Gegen&#x017F;tand &#x017F;owohl in der Zoolo-<lb/>
gie, als auch in der Botanik, bisher nur &#x017F;ehr Wenig ge&#x017F;chehen, und fa&#x017F;t<lb/>
Alles, was man von den ver&#x017F;chiedenen Vererbungsge&#x017F;etzen weiß, beruht<lb/>
auf den Erfahrungen der Landwirthe und der Ga&#x0364;rtner. Daher i&#x017F;t es<lb/>
nicht zu verwundern, daß im Ganzen die&#x017F;e a&#x0364;ußer&#x017F;t intere&#x017F;&#x017F;anten und<lb/>
wichtigen Er&#x017F;cheinungen nicht mit der wu&#x0364;n&#x017F;chenswerthen wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft-<lb/>
lichen Scha&#x0364;rfe unter&#x017F;ucht und in die Form von naturwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlichen<lb/>
Ge&#x017F;etzen gebracht worden &#x017F;ind. Was ich Jhnen demnach im Folgen-<lb/>
den von den ver&#x017F;chiedenen Vererbungsge&#x017F;etzen mittheilen werde, &#x017F;ind<lb/>
nur einige Bruch&#x017F;tu&#x0364;cke, die vorla&#x0364;ufig aus dem unendlich reichen Schatz,<lb/>
welcher fu&#x0364;r die Erkenntniß hier offen liegt, herausgenommen werden.</p><lb/>
        <p>Wir ko&#x0364;nnen zuna&#x0364;ch&#x017F;t alle ver&#x017F;chiedenen Erblichkeitser&#x017F;cheinungen<lb/>
in zwei Gruppen bringen, welche wir als Vererbung <hi rendition="#g">ererbter</hi> Cha-<lb/>
ractere und Vererbung <hi rendition="#g">erworbener</hi> Charactere unter&#x017F;cheiden; und<lb/>
wir ko&#x0364;nnen die er&#x017F;tere als die <hi rendition="#g">erhaltende</hi> (con&#x017F;ervative) Vererbung,<lb/>
die zweite als die <hi rendition="#g">fort&#x017F;chreitende</hi> (progre&#x017F;&#x017F;ive) Vererbung bezeich-<lb/>
nen. Die&#x017F;e Unter&#x017F;cheidung beruht auf der a&#x0364;ußer&#x017F;t wichtigen That&#x017F;ache,<lb/>
daß die Einzelwe&#x017F;en einer jeden Art von Thieren und Pflanzen nicht<lb/>
allein diejenigen Eigen&#x017F;chaften auf ihre Nachkommen vererben ko&#x0364;nnen,<lb/>
welche &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t von ihren Vorfahren ererbt haben, &#x017F;ondern auch die<lb/>
eigenthu&#x0364;mlichen, individuellen Eigen&#x017F;chaften, die &#x017F;ie er&#x017F;t wa&#x0364;hrend ihres<lb/>
Lebens erworben haben. Die&#x017F;e letzteren werden durch die fort&#x017F;chrei-<lb/>
tende, die er&#x017F;teren durch die erhaltende Erblichkeit u&#x0364;bertragen. Zu-<lb/>
na&#x0364;ch&#x017F;t haben wir nun hier die Er&#x017F;cheinungen der <hi rendition="#g">con&#x017F;ervativen<lb/>
oder erhaltenden Vererbung</hi> zu unter&#x017F;uchen, d. h. der Verer-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[159/0180] Unterſcheidung der erhaltenden und fortſchreitenden Vererbung. Urſachen, auf Anziehungs- und Abſtoßungsverhaͤltniſſe der Stoff- theilchen, auf Bewegungserſcheinungen der Materie zuruͤckzufuͤh- ren ſind. Bevor wir nun zur zweiten, der Vererbung entgegenwirkenden Function, der Erſcheinung der Anpaſſung oder Abaͤnderung uͤbergehen, erſcheint es zweckmaͤßig, zuvor noch einen Blick auf die verſchiedenen Aeußerungsweiſen der Erblichkeit zu werfen, welche man vielleicht ſchon jetzt als „Vererbungsgeſetze“ aufſtellen kann. Leider iſt fuͤr dieſen ſo außerordentlich wichtigen Gegenſtand ſowohl in der Zoolo- gie, als auch in der Botanik, bisher nur ſehr Wenig geſchehen, und faſt Alles, was man von den verſchiedenen Vererbungsgeſetzen weiß, beruht auf den Erfahrungen der Landwirthe und der Gaͤrtner. Daher iſt es nicht zu verwundern, daß im Ganzen dieſe aͤußerſt intereſſanten und wichtigen Erſcheinungen nicht mit der wuͤnſchenswerthen wiſſenſchaft- lichen Schaͤrfe unterſucht und in die Form von naturwiſſenſchaftlichen Geſetzen gebracht worden ſind. Was ich Jhnen demnach im Folgen- den von den verſchiedenen Vererbungsgeſetzen mittheilen werde, ſind nur einige Bruchſtuͤcke, die vorlaͤufig aus dem unendlich reichen Schatz, welcher fuͤr die Erkenntniß hier offen liegt, herausgenommen werden. Wir koͤnnen zunaͤchſt alle verſchiedenen Erblichkeitserſcheinungen in zwei Gruppen bringen, welche wir als Vererbung ererbter Cha- ractere und Vererbung erworbener Charactere unterſcheiden; und wir koͤnnen die erſtere als die erhaltende (conſervative) Vererbung, die zweite als die fortſchreitende (progreſſive) Vererbung bezeich- nen. Dieſe Unterſcheidung beruht auf der aͤußerſt wichtigen Thatſache, daß die Einzelweſen einer jeden Art von Thieren und Pflanzen nicht allein diejenigen Eigenſchaften auf ihre Nachkommen vererben koͤnnen, welche ſie ſelbſt von ihren Vorfahren ererbt haben, ſondern auch die eigenthuͤmlichen, individuellen Eigenſchaften, die ſie erſt waͤhrend ihres Lebens erworben haben. Dieſe letzteren werden durch die fortſchrei- tende, die erſteren durch die erhaltende Erblichkeit uͤbertragen. Zu- naͤchſt haben wir nun hier die Erſcheinungen der conſervativen oder erhaltenden Vererbung zu unterſuchen, d. h. der Verer-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/180
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/180>, abgerufen am 18.05.2024.