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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Mechanische Natur der Erblichkeit und Veränderlichkeit.
Vererbung wesentlich bedingt durch die materielle Continuität,
durch die theilweise stoffliche Gleichheit des erzeugenden und des ge-
zeugten Organismus, des Kindes und der Eltern. Andrerseits ist
die Anpassung oder Abänderung lediglich die Folge der materiellen
Einwirkungen, welche die Materie des Organismus durch die densel-
ben umgebende Materie erfährt, in der weitesten Bedeutung des Worts
durch die Lebensbedingungen. Die Erscheinung der Anpassung, oder
Abänderung beruht also auf der materiellen Wechselwirkung des Or-
ganismus und seiner Umgebung oder seiner Existenzbedingungen, wäh-
rend die Vererbung in der theilweisen Jdentität des zeugenden und
des erzeugten Organismus begründet ist. Das sind also die eigent-
lichen, einfachen, mechanischen Grundlagen des künstlichen Züchtungs-
processes.

Darwin frug sich nun: Kommt ein ähnlicher Züchtungsproceß
in der Natur vor, und giebt es in der Natur Kräfte, welche die Thä-
tigkeit des Menschen bei der künstlichen Züchtung ersetzen können?
Giebt es ein natürliches Verhältniß unter den wilden Thieren und
Pflanzen, welches züchtend wirken kann, welches auslesend wirkt in
ähnlicher Weise, wie bei der künstlichen Zuchtwahl oder Züchtung
der planmäßige Wille des Menschen eine Auswahl übt? Auf die
Entdeckung eines solchen Verhältnisses kam hier alles an und sie gelang
Darwin in so befriedigender Weise, daß wir eben deshalb seine
Züchtungslehre oder Selectionstheorie als vollkommen ausreichend
betrachten, um die Entstehung der wilden Thier- und Pflanzenarten
mechanisch zu erklären. Dasjenige Verhältniß, welches im freien Na-
turzustande züchtend und umbildend auf die Formen der Thiere und
Pflanzen einwirkt, bezeichnet Darwin mit dem Ausdruck: "Kampf
um's Dasein
" (Struggle for life).

Die Bezeichnung "Kampf um's Dasein" ist vielleicht in mancher
Beziehung nicht ganz glücklich gewählt, und würde wohl schärfer ge-
faßt werden können als "Mitbewerbung um die nothwendi-
gen Existenzbedürfnisse
". Man hat nämlich unter dem "Kam-
pfe um das Dasein" manche Verhältnisse begriffen, die eigentlich im

Mechaniſche Natur der Erblichkeit und Veraͤnderlichkeit.
Vererbung weſentlich bedingt durch die materielle Continuitaͤt,
durch die theilweiſe ſtoffliche Gleichheit des erzeugenden und des ge-
zeugten Organismus, des Kindes und der Eltern. Andrerſeits iſt
die Anpaſſung oder Abaͤnderung lediglich die Folge der materiellen
Einwirkungen, welche die Materie des Organismus durch die denſel-
ben umgebende Materie erfaͤhrt, in der weiteſten Bedeutung des Worts
durch die Lebensbedingungen. Die Erſcheinung der Anpaſſung, oder
Abaͤnderung beruht alſo auf der materiellen Wechſelwirkung des Or-
ganismus und ſeiner Umgebung oder ſeiner Exiſtenzbedingungen, waͤh-
rend die Vererbung in der theilweiſen Jdentitaͤt des zeugenden und
des erzeugten Organismus begruͤndet iſt. Das ſind alſo die eigent-
lichen, einfachen, mechaniſchen Grundlagen des kuͤnſtlichen Zuͤchtungs-
proceſſes.

Darwin frug ſich nun: Kommt ein aͤhnlicher Zuͤchtungsproceß
in der Natur vor, und giebt es in der Natur Kraͤfte, welche die Thaͤ-
tigkeit des Menſchen bei der kuͤnſtlichen Zuͤchtung erſetzen koͤnnen?
Giebt es ein natuͤrliches Verhaͤltniß unter den wilden Thieren und
Pflanzen, welches zuͤchtend wirken kann, welches ausleſend wirkt in
aͤhnlicher Weiſe, wie bei der kuͤnſtlichen Zuchtwahl oder Zuͤchtung
der planmaͤßige Wille des Menſchen eine Auswahl uͤbt? Auf die
Entdeckung eines ſolchen Verhaͤltniſſes kam hier alles an und ſie gelang
Darwin in ſo befriedigender Weiſe, daß wir eben deshalb ſeine
Zuͤchtungslehre oder Selectionstheorie als vollkommen ausreichend
betrachten, um die Entſtehung der wilden Thier- und Pflanzenarten
mechaniſch zu erklaͤren. Dasjenige Verhaͤltniß, welches im freien Na-
turzuſtande zuͤchtend und umbildend auf die Formen der Thiere und
Pflanzen einwirkt, bezeichnet Darwin mit dem Ausdruck: „Kampf
um’s Daſein
(Struggle for life).

Die Bezeichnung „Kampf um’s Daſein“ iſt vielleicht in mancher
Beziehung nicht ganz gluͤcklich gewaͤhlt, und wuͤrde wohl ſchaͤrfer ge-
faßt werden koͤnnen als „Mitbewerbung um die nothwendi-
gen Exiſtenzbeduͤrfniſſe
“. Man hat naͤmlich unter dem „Kam-
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[125/0146] Mechaniſche Natur der Erblichkeit und Veraͤnderlichkeit. Vererbung weſentlich bedingt durch die materielle Continuitaͤt, durch die theilweiſe ſtoffliche Gleichheit des erzeugenden und des ge- zeugten Organismus, des Kindes und der Eltern. Andrerſeits iſt die Anpaſſung oder Abaͤnderung lediglich die Folge der materiellen Einwirkungen, welche die Materie des Organismus durch die denſel- ben umgebende Materie erfaͤhrt, in der weiteſten Bedeutung des Worts durch die Lebensbedingungen. Die Erſcheinung der Anpaſſung, oder Abaͤnderung beruht alſo auf der materiellen Wechſelwirkung des Or- ganismus und ſeiner Umgebung oder ſeiner Exiſtenzbedingungen, waͤh- rend die Vererbung in der theilweiſen Jdentitaͤt des zeugenden und des erzeugten Organismus begruͤndet iſt. Das ſind alſo die eigent- lichen, einfachen, mechaniſchen Grundlagen des kuͤnſtlichen Zuͤchtungs- proceſſes. Darwin frug ſich nun: Kommt ein aͤhnlicher Zuͤchtungsproceß in der Natur vor, und giebt es in der Natur Kraͤfte, welche die Thaͤ- tigkeit des Menſchen bei der kuͤnſtlichen Zuͤchtung erſetzen koͤnnen? Giebt es ein natuͤrliches Verhaͤltniß unter den wilden Thieren und Pflanzen, welches zuͤchtend wirken kann, welches ausleſend wirkt in aͤhnlicher Weiſe, wie bei der kuͤnſtlichen Zuchtwahl oder Zuͤchtung der planmaͤßige Wille des Menſchen eine Auswahl uͤbt? Auf die Entdeckung eines ſolchen Verhaͤltniſſes kam hier alles an und ſie gelang Darwin in ſo befriedigender Weiſe, daß wir eben deshalb ſeine Zuͤchtungslehre oder Selectionstheorie als vollkommen ausreichend betrachten, um die Entſtehung der wilden Thier- und Pflanzenarten mechaniſch zu erklaͤren. Dasjenige Verhaͤltniß, welches im freien Na- turzuſtande zuͤchtend und umbildend auf die Formen der Thiere und Pflanzen einwirkt, bezeichnet Darwin mit dem Ausdruck: „Kampf um’s Daſein“ (Struggle for life). Die Bezeichnung „Kampf um’s Daſein“ iſt vielleicht in mancher Beziehung nicht ganz gluͤcklich gewaͤhlt, und wuͤrde wohl ſchaͤrfer ge- faßt werden koͤnnen als „Mitbewerbung um die nothwendi- gen Exiſtenzbeduͤrfniſſe“. Man hat naͤmlich unter dem „Kam- pfe um das Daſein“ manche Verhaͤltniſſe begriffen, die eigentlich im

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 125. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/146>, abgerufen am 24.11.2024.