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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Entstehung der größten Wirkungen durch die kleinsten Ursachen.
langsam und unmerklich vor sich gehend, können die größten Er-
folge erreichen, wenn sie nur einen hinlänglich großen Zeitraum hin-
durch ihre Wirksamkeit entfalten. Es ist bekannt, daß an zahlreichen
Stellen der Erde noch jetzt eine beständige langsame Senkung der
Küste sich nachweisen läßt, ebenso wie an anderen Stellen eine He-
bung; Senkungen und Hebungen, die vielleicht im Jahrhundert nur
ein paar Zoll oder höchstens einige Fuß betragen. Sobald diese He-
bungen Millionen oder Milliarden von Jahren andauern, so genü-
gen dieselben vollständig, um die höchsten Gebirgsketten hervortreten
zu lassen, ohne daß dazu jene räthselhaften und unbegreiflichen Revo-
lutionen nöthig wären. Auch die meteorologische Thätigkeit der At-
mosphäre, die Wirksamkeit des Regens und des Schnees, ferner die
Brandung der Küste, welche an und für sich nur unbedeutend zu wir-
ken scheinen, müssen die größten Veränderungen hervorbringen, wenn
man nur hinlänglich große Zeiträume für deren Wirksamkeit in An-
spruch nimmt. Die Summirung der kleinsten Ursachen bringt die
größten Wirkungen hervor. Der Wassertropfen höhlt den Stein aus.

Auf die unermeßliche Länge der geologischen Zeiträume,
welche hierzu erforderlich sind, müssen wir nothwendig später noch
einmal zurückkommen, da, wie Sie sehen werden, auch für Dar-
win's
Theorie, ebenso wie für diejenige Lyell's, die Annahme ganz
ungeheurer Zeitmaaße absolut unentbehrlich ist. Wenn die Erde und
ihre Organismen sich wirklich auf natürlichem Wege entwickelt haben,
so muß diese langsame und allmähliche Entwickelung jedenfalls eine
Zeitdauer in Anspruch genommen haben, deren Vorstellung unser Fas-
sungsvermögen gänzlich übersteigt. Da Viele aber gerade hierin eine
Hauptschwierigkeit jener Entwickelungstheorien erblicken, so will ich hier
schon von vornherein bemerken, daß wir nicht einen einzigen vernünf-
tigen Grund haben, irgend wie uns die hierzu erforderliche Zeit be-
schränkt zu denken. Wenn nicht allein viele Laien, sondern selbst her-
vorragende Naturforscher, z. B. Liebig, als Haupteinwand gegen
diese Theorien einwerfen, daß dieselben willkürlich zu lange Zeiträume
in Anspruch nähmen, so ist dieser Einwand kaum zu begreifen. Denn

Entſtehung der groͤßten Wirkungen durch die kleinſten Urſachen.
langſam und unmerklich vor ſich gehend, koͤnnen die groͤßten Er-
folge erreichen, wenn ſie nur einen hinlaͤnglich großen Zeitraum hin-
durch ihre Wirkſamkeit entfalten. Es iſt bekannt, daß an zahlreichen
Stellen der Erde noch jetzt eine beſtaͤndige langſame Senkung der
Kuͤſte ſich nachweiſen laͤßt, ebenſo wie an anderen Stellen eine He-
bung; Senkungen und Hebungen, die vielleicht im Jahrhundert nur
ein paar Zoll oder hoͤchſtens einige Fuß betragen. Sobald dieſe He-
bungen Millionen oder Milliarden von Jahren andauern, ſo genuͤ-
gen dieſelben vollſtaͤndig, um die hoͤchſten Gebirgsketten hervortreten
zu laſſen, ohne daß dazu jene raͤthſelhaften und unbegreiflichen Revo-
lutionen noͤthig waͤren. Auch die meteorologiſche Thaͤtigkeit der At-
moſphaͤre, die Wirkſamkeit des Regens und des Schnees, ferner die
Brandung der Kuͤſte, welche an und fuͤr ſich nur unbedeutend zu wir-
ken ſcheinen, muͤſſen die groͤßten Veraͤnderungen hervorbringen, wenn
man nur hinlaͤnglich große Zeitraͤume fuͤr deren Wirkſamkeit in An-
ſpruch nimmt. Die Summirung der kleinſten Urſachen bringt die
groͤßten Wirkungen hervor. Der Waſſertropfen hoͤhlt den Stein aus.

Auf die unermeßliche Laͤnge der geologiſchen Zeitraͤume,
welche hierzu erforderlich ſind, muͤſſen wir nothwendig ſpaͤter noch
einmal zuruͤckkommen, da, wie Sie ſehen werden, auch fuͤr Dar-
win’s
Theorie, ebenſo wie fuͤr diejenige Lyell’s, die Annahme ganz
ungeheurer Zeitmaaße abſolut unentbehrlich iſt. Wenn die Erde und
ihre Organismen ſich wirklich auf natuͤrlichem Wege entwickelt haben,
ſo muß dieſe langſame und allmaͤhliche Entwickelung jedenfalls eine
Zeitdauer in Anſpruch genommen haben, deren Vorſtellung unſer Faſ-
ſungsvermoͤgen gaͤnzlich uͤberſteigt. Da Viele aber gerade hierin eine
Hauptſchwierigkeit jener Entwickelungstheorien erblicken, ſo will ich hier
ſchon von vornherein bemerken, daß wir nicht einen einzigen vernuͤnf-
tigen Grund haben, irgend wie uns die hierzu erforderliche Zeit be-
ſchraͤnkt zu denken. Wenn nicht allein viele Laien, ſondern ſelbſt her-
vorragende Naturforſcher, z. B. Liebig, als Haupteinwand gegen
dieſe Theorien einwerfen, daß dieſelben willkuͤrlich zu lange Zeitraͤume
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[102/0123] Entſtehung der groͤßten Wirkungen durch die kleinſten Urſachen. langſam und unmerklich vor ſich gehend, koͤnnen die groͤßten Er- folge erreichen, wenn ſie nur einen hinlaͤnglich großen Zeitraum hin- durch ihre Wirkſamkeit entfalten. Es iſt bekannt, daß an zahlreichen Stellen der Erde noch jetzt eine beſtaͤndige langſame Senkung der Kuͤſte ſich nachweiſen laͤßt, ebenſo wie an anderen Stellen eine He- bung; Senkungen und Hebungen, die vielleicht im Jahrhundert nur ein paar Zoll oder hoͤchſtens einige Fuß betragen. Sobald dieſe He- bungen Millionen oder Milliarden von Jahren andauern, ſo genuͤ- gen dieſelben vollſtaͤndig, um die hoͤchſten Gebirgsketten hervortreten zu laſſen, ohne daß dazu jene raͤthſelhaften und unbegreiflichen Revo- lutionen noͤthig waͤren. Auch die meteorologiſche Thaͤtigkeit der At- moſphaͤre, die Wirkſamkeit des Regens und des Schnees, ferner die Brandung der Kuͤſte, welche an und fuͤr ſich nur unbedeutend zu wir- ken ſcheinen, muͤſſen die groͤßten Veraͤnderungen hervorbringen, wenn man nur hinlaͤnglich große Zeitraͤume fuͤr deren Wirkſamkeit in An- ſpruch nimmt. Die Summirung der kleinſten Urſachen bringt die groͤßten Wirkungen hervor. Der Waſſertropfen hoͤhlt den Stein aus. Auf die unermeßliche Laͤnge der geologiſchen Zeitraͤume, welche hierzu erforderlich ſind, muͤſſen wir nothwendig ſpaͤter noch einmal zuruͤckkommen, da, wie Sie ſehen werden, auch fuͤr Dar- win’s Theorie, ebenſo wie fuͤr diejenige Lyell’s, die Annahme ganz ungeheurer Zeitmaaße abſolut unentbehrlich iſt. Wenn die Erde und ihre Organismen ſich wirklich auf natuͤrlichem Wege entwickelt haben, ſo muß dieſe langſame und allmaͤhliche Entwickelung jedenfalls eine Zeitdauer in Anſpruch genommen haben, deren Vorſtellung unſer Faſ- ſungsvermoͤgen gaͤnzlich uͤberſteigt. Da Viele aber gerade hierin eine Hauptſchwierigkeit jener Entwickelungstheorien erblicken, ſo will ich hier ſchon von vornherein bemerken, daß wir nicht einen einzigen vernuͤnf- tigen Grund haben, irgend wie uns die hierzu erforderliche Zeit be- ſchraͤnkt zu denken. Wenn nicht allein viele Laien, ſondern ſelbſt her- vorragende Naturforſcher, z. B. Liebig, als Haupteinwand gegen dieſe Theorien einwerfen, daß dieſelben willkuͤrlich zu lange Zeitraͤume in Anſpruch naͤhmen, ſo iſt dieſer Einwand kaum zu begreifen. Denn

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/123>, abgerufen am 18.05.2024.