Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite
Doppeltes Verdienst von Charles Darwin.

Wenn Sie bedenken, daß (abgesehen von den wenigen vorher
angeführten Ausnahmen) die gesammte Biologie vor Darwin den
entgegengesetzten Anschauungen huldigte, und daß fast bei allen Zoo-
logen und Botanikern die absolute Selbstständigkeit der organischen
Species als selbstverständliche Voraussetzung aller Formbetrachtungen
galt, so werden Sie jenes doppelte Verdienst Darwin's gewiß nicht
gering anschlagen. Das falsche Dogma von der Beständigkeit und
unabhängigen Erschaffung der einzelnen Arten hatte eine so hohe Au-
torität und eine so allgemeine Geltung gewonnen, und wurde außer-
dem durch den trügenden Augenschein bei oberflächlicher Betrachtung
so sehr begünstigt, daß wahrlich kein geringer Grad von Muth, Kraft
und Verstand dazu gehörte, sich reformatorisch gegen jenes allmäch-
tige Dogma zu erheben und das künstlich darauf errichtete Lehrgebäude
zu zertrümmern. Außerdem brachten aber Darwin und Wallace
noch den neuen und höchst wichtigen Grundgedanken der "natürlichen
Züchtung" zu Lamarck's und Goethe's Abstammungslehre hinzu.

Man muß diese beiden Punkte scharf unterscheiden, -- freilich
geschieht es gewöhnlich nicht, -- man muß scharf unterscheiden erstens
die Abstammungslehre oder Descendenztheorie von Lamarck,
welche bloß behauptet, daß alle Thier- und Pflanzenarten von ge-
meinsamen, einfachsten, spontan entstandenen Urformen abstammen --
und zweitens die Züchtungslehre oder Selectionstheorie von
Darwin, welche uns zeigt, warum diese fortschreitende Umbildung
der organischen Gestalten stattfand, welche mechanisch wirkenden Ur-
sachen die ununterbrochene Neubildung und immer größere Mannich-
faltigkeit der Thiere und Pflanzen bedingen.



Doppeltes Verdienſt von Charles Darwin.

Wenn Sie bedenken, daß (abgeſehen von den wenigen vorher
angefuͤhrten Ausnahmen) die geſammte Biologie vor Darwin den
entgegengeſetzten Anſchauungen huldigte, und daß faſt bei allen Zoo-
logen und Botanikern die abſolute Selbſtſtaͤndigkeit der organiſchen
Species als ſelbſtverſtaͤndliche Vorausſetzung aller Formbetrachtungen
galt, ſo werden Sie jenes doppelte Verdienſt Darwin’s gewiß nicht
gering anſchlagen. Das falſche Dogma von der Beſtaͤndigkeit und
unabhaͤngigen Erſchaffung der einzelnen Arten hatte eine ſo hohe Au-
toritaͤt und eine ſo allgemeine Geltung gewonnen, und wurde außer-
dem durch den truͤgenden Augenſchein bei oberflaͤchlicher Betrachtung
ſo ſehr beguͤnſtigt, daß wahrlich kein geringer Grad von Muth, Kraft
und Verſtand dazu gehoͤrte, ſich reformatoriſch gegen jenes allmaͤch-
tige Dogma zu erheben und das kuͤnſtlich darauf errichtete Lehrgebaͤude
zu zertruͤmmern. Außerdem brachten aber Darwin und Wallace
noch den neuen und hoͤchſt wichtigen Grundgedanken der „natuͤrlichen
Zuͤchtung“ zu Lamarck’s und Goethe’s Abſtammungslehre hinzu.

Man muß dieſe beiden Punkte ſcharf unterſcheiden, — freilich
geſchieht es gewoͤhnlich nicht, — man muß ſcharf unterſcheiden erſtens
die Abſtammungslehre oder Deſcendenztheorie von Lamarck,
welche bloß behauptet, daß alle Thier- und Pflanzenarten von ge-
meinſamen, einfachſten, ſpontan entſtandenen Urformen abſtammen —
und zweitens die Zuͤchtungslehre oder Selectionstheorie von
Darwin, welche uns zeigt, warum dieſe fortſchreitende Umbildung
der organiſchen Geſtalten ſtattfand, welche mechaniſch wirkenden Ur-
ſachen die ununterbrochene Neubildung und immer groͤßere Mannich-
faltigkeit der Thiere und Pflanzen bedingen.



<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0119" n="98"/>
        <fw place="top" type="header">Doppeltes Verdien&#x017F;t von Charles Darwin.</fw><lb/>
        <p>Wenn Sie bedenken, daß (abge&#x017F;ehen von den wenigen vorher<lb/>
angefu&#x0364;hrten Ausnahmen) die ge&#x017F;ammte Biologie vor <hi rendition="#g">Darwin</hi> den<lb/>
entgegenge&#x017F;etzten An&#x017F;chauungen huldigte, und daß fa&#x017F;t bei allen Zoo-<lb/>
logen und Botanikern die ab&#x017F;olute Selb&#x017F;t&#x017F;ta&#x0364;ndigkeit der organi&#x017F;chen<lb/>
Species als &#x017F;elb&#x017F;tver&#x017F;ta&#x0364;ndliche Voraus&#x017F;etzung aller Formbetrachtungen<lb/>
galt, &#x017F;o werden Sie jenes doppelte Verdien&#x017F;t <hi rendition="#g">Darwin&#x2019;s</hi> gewiß nicht<lb/>
gering an&#x017F;chlagen. Das fal&#x017F;che Dogma von der Be&#x017F;ta&#x0364;ndigkeit und<lb/>
unabha&#x0364;ngigen Er&#x017F;chaffung der einzelnen Arten hatte eine &#x017F;o hohe Au-<lb/>
torita&#x0364;t und eine &#x017F;o allgemeine Geltung gewonnen, und wurde außer-<lb/>
dem durch den tru&#x0364;genden Augen&#x017F;chein bei oberfla&#x0364;chlicher Betrachtung<lb/>
&#x017F;o &#x017F;ehr begu&#x0364;n&#x017F;tigt, daß wahrlich kein geringer Grad von Muth, Kraft<lb/>
und Ver&#x017F;tand dazu geho&#x0364;rte, &#x017F;ich reformatori&#x017F;ch gegen jenes allma&#x0364;ch-<lb/>
tige Dogma zu erheben und das ku&#x0364;n&#x017F;tlich darauf errichtete Lehrgeba&#x0364;ude<lb/>
zu zertru&#x0364;mmern. Außerdem brachten aber <hi rendition="#g">Darwin und Wallace</hi><lb/>
noch den neuen und ho&#x0364;ch&#x017F;t wichtigen Grundgedanken der &#x201E;natu&#x0364;rlichen<lb/>
Zu&#x0364;chtung&#x201C; zu <hi rendition="#g">Lamarck&#x2019;s</hi> und <hi rendition="#g">Goethe&#x2019;s</hi> Ab&#x017F;tammungslehre hinzu.</p><lb/>
        <p>Man muß die&#x017F;e beiden Punkte &#x017F;charf unter&#x017F;cheiden, &#x2014; freilich<lb/>
ge&#x017F;chieht es gewo&#x0364;hnlich nicht, &#x2014; man muß &#x017F;charf unter&#x017F;cheiden er&#x017F;tens<lb/>
die Ab&#x017F;tammungslehre oder <hi rendition="#g">De&#x017F;cendenztheorie</hi> von <hi rendition="#g">Lamarck,</hi><lb/>
welche bloß behauptet, <hi rendition="#g">daß</hi> alle Thier- und Pflanzenarten von ge-<lb/>
mein&#x017F;amen, einfach&#x017F;ten, &#x017F;pontan ent&#x017F;tandenen Urformen ab&#x017F;tammen &#x2014;<lb/>
und zweitens die Zu&#x0364;chtungslehre oder <hi rendition="#g">Selectionstheorie</hi> von<lb/><hi rendition="#g">Darwin,</hi> welche uns zeigt, <hi rendition="#g">warum</hi> die&#x017F;e fort&#x017F;chreitende Umbildung<lb/>
der organi&#x017F;chen Ge&#x017F;talten &#x017F;tattfand, welche mechani&#x017F;ch wirkenden Ur-<lb/>
&#x017F;achen die ununterbrochene Neubildung und immer gro&#x0364;ßere Mannich-<lb/>
faltigkeit der Thiere und Pflanzen bedingen.</p>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[98/0119] Doppeltes Verdienſt von Charles Darwin. Wenn Sie bedenken, daß (abgeſehen von den wenigen vorher angefuͤhrten Ausnahmen) die geſammte Biologie vor Darwin den entgegengeſetzten Anſchauungen huldigte, und daß faſt bei allen Zoo- logen und Botanikern die abſolute Selbſtſtaͤndigkeit der organiſchen Species als ſelbſtverſtaͤndliche Vorausſetzung aller Formbetrachtungen galt, ſo werden Sie jenes doppelte Verdienſt Darwin’s gewiß nicht gering anſchlagen. Das falſche Dogma von der Beſtaͤndigkeit und unabhaͤngigen Erſchaffung der einzelnen Arten hatte eine ſo hohe Au- toritaͤt und eine ſo allgemeine Geltung gewonnen, und wurde außer- dem durch den truͤgenden Augenſchein bei oberflaͤchlicher Betrachtung ſo ſehr beguͤnſtigt, daß wahrlich kein geringer Grad von Muth, Kraft und Verſtand dazu gehoͤrte, ſich reformatoriſch gegen jenes allmaͤch- tige Dogma zu erheben und das kuͤnſtlich darauf errichtete Lehrgebaͤude zu zertruͤmmern. Außerdem brachten aber Darwin und Wallace noch den neuen und hoͤchſt wichtigen Grundgedanken der „natuͤrlichen Zuͤchtung“ zu Lamarck’s und Goethe’s Abſtammungslehre hinzu. Man muß dieſe beiden Punkte ſcharf unterſcheiden, — freilich geſchieht es gewoͤhnlich nicht, — man muß ſcharf unterſcheiden erſtens die Abſtammungslehre oder Deſcendenztheorie von Lamarck, welche bloß behauptet, daß alle Thier- und Pflanzenarten von ge- meinſamen, einfachſten, ſpontan entſtandenen Urformen abſtammen — und zweitens die Zuͤchtungslehre oder Selectionstheorie von Darwin, welche uns zeigt, warum dieſe fortſchreitende Umbildung der organiſchen Geſtalten ſtattfand, welche mechaniſch wirkenden Ur- ſachen die ununterbrochene Neubildung und immer groͤßere Mannich- faltigkeit der Thiere und Pflanzen bedingen.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/119
Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/119>, abgerufen am 22.11.2024.