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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Kant's genealogische Entwickelungstheorie.
daran nicht etwas einem System Aehnliches, und zwar dem Erzeu-
gungsprincip
nach, vorfinde, ohne daß wir nöthig haben, beim
bloßen Beurtheilungsprincip, welches für die Einsicht ihrer Erzeugung
keinen Aufschluß giebt, stehen zn bleiben, und muthlos allen Anspruch
auf Natureinsicht in diesem Felde aufzugeben. Die Uebereinkunft
so vieler Thiergattungen in einem gewissen gemeinsamen Schema, das
nicht allein in ihrem Knochenbau, sondern auch in der Anordnung
der übrigen Theile zum Grunde zu liegen scheint, wo bewunderungs-
würdige Einfalt des Grundrisses durch Verkürzung einer und Verlän-
gerung anderer, durch Einwickelung dieser und Auswickelung jener Theile,
eine so große Mannichfaltigkeit von Species hat hervorbringen können,
läßt einen obgleich schwachen Strahl von Hoffnung ins Gemüth fallen,
daß hier wohl Etwas mit dem Princip des Mechanismus der
Natur,
ohne das es ohnedies keine Naturwissenschaft geben kann,
auszurichten sein möchte. Diese Analogie der Formen, so fern sie
bei aller Verschiedenheit einem gemeinschaftlichen Urbilde gemäß er-
zeugt zu sein scheinen, verstärkt die Vermuthung einer wirklichen
Verwandtschaft
derselben in der Erzeugung von einer gemeinschaft-
lichen Urmutter durch die stufenartige Annäherung einer Thiergattung
zur anderen, von derjenigen an, in welcher das Princip der Zwecke
am meisten bewährt zu sein scheint, nämlich dem Menschen, bis
zum Polyp,
von diesem sogar bis zu Moosen und Flechten, und
endlich zu der niedrigsten uns merklichen Stufe der Natur, zur rohen
Materie:
aus welcher und ihren Kräften nach mechanischen
Gesetzen
(gleich denen, danach sie in Krystallerzeugungen
wirkt) die ganze Technik der Natur, die uns in organisirten Wesen so
unbegreiflich ist, daß wir uns dazu ein anderes Princip zu denken ge-
nöthigt glauben, abzustammen scheint. Hier steht es nun dem Ar-
chäologen
der Natur frei, aus den übrig gebliebenen Spuren ihrer
ältesten Revolutionen, nach allen ihm bekannten oder gemuthmaßten
Mechanismen derselben, jene große Familie von Geschöpfen
(denn so müßte man sie sich vorstellen, wenn die genannte, durchgän-

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Kant’s genealogiſche Entwickelungstheorie.
daran nicht etwas einem Syſtem Aehnliches, und zwar dem Erzeu-
gungsprincip
nach, vorfinde, ohne daß wir noͤthig haben, beim
bloßen Beurtheilungsprincip, welches fuͤr die Einſicht ihrer Erzeugung
keinen Aufſchluß giebt, ſtehen zn bleiben, und muthlos allen Anſpruch
auf Natureinſicht in dieſem Felde aufzugeben. Die Uebereinkunft
ſo vieler Thiergattungen in einem gewiſſen gemeinſamen Schema, das
nicht allein in ihrem Knochenbau, ſondern auch in der Anordnung
der uͤbrigen Theile zum Grunde zu liegen ſcheint, wo bewunderungs-
wuͤrdige Einfalt des Grundriſſes durch Verkuͤrzung einer und Verlaͤn-
gerung anderer, durch Einwickelung dieſer und Auswickelung jener Theile,
eine ſo große Mannichfaltigkeit von Species hat hervorbringen koͤnnen,
laͤßt einen obgleich ſchwachen Strahl von Hoffnung ins Gemuͤth fallen,
daß hier wohl Etwas mit dem Princip des Mechanismus der
Natur,
ohne das es ohnedies keine Naturwiſſenſchaft geben kann,
auszurichten ſein moͤchte. Dieſe Analogie der Formen, ſo fern ſie
bei aller Verſchiedenheit einem gemeinſchaftlichen Urbilde gemaͤß er-
zeugt zu ſein ſcheinen, verſtaͤrkt die Vermuthung einer wirklichen
Verwandtſchaft
derſelben in der Erzeugung von einer gemeinſchaft-
lichen Urmutter durch die ſtufenartige Annaͤherung einer Thiergattung
zur anderen, von derjenigen an, in welcher das Princip der Zwecke
am meiſten bewaͤhrt zu ſein ſcheint, naͤmlich dem Menſchen, bis
zum Polyp,
von dieſem ſogar bis zu Mooſen und Flechten, und
endlich zu der niedrigſten uns merklichen Stufe der Natur, zur rohen
Materie:
aus welcher und ihren Kraͤften nach mechaniſchen
Geſetzen
(gleich denen, danach ſie in Kryſtallerzeugungen
wirkt) die ganze Technik der Natur, die uns in organiſirten Weſen ſo
unbegreiflich iſt, daß wir uns dazu ein anderes Princip zu denken ge-
noͤthigt glauben, abzuſtammen ſcheint. Hier ſteht es nun dem Ar-
chaͤologen
der Natur frei, aus den uͤbrig gebliebenen Spuren ihrer
aͤlteſten Revolutionen, nach allen ihm bekannten oder gemuthmaßten
Mechanismen derſelben, jene große Familie von Geſchoͤpfen
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[83/0104] Kant’s genealogiſche Entwickelungstheorie. daran nicht etwas einem Syſtem Aehnliches, und zwar dem Erzeu- gungsprincip nach, vorfinde, ohne daß wir noͤthig haben, beim bloßen Beurtheilungsprincip, welches fuͤr die Einſicht ihrer Erzeugung keinen Aufſchluß giebt, ſtehen zn bleiben, und muthlos allen Anſpruch auf Natureinſicht in dieſem Felde aufzugeben. Die Uebereinkunft ſo vieler Thiergattungen in einem gewiſſen gemeinſamen Schema, das nicht allein in ihrem Knochenbau, ſondern auch in der Anordnung der uͤbrigen Theile zum Grunde zu liegen ſcheint, wo bewunderungs- wuͤrdige Einfalt des Grundriſſes durch Verkuͤrzung einer und Verlaͤn- gerung anderer, durch Einwickelung dieſer und Auswickelung jener Theile, eine ſo große Mannichfaltigkeit von Species hat hervorbringen koͤnnen, laͤßt einen obgleich ſchwachen Strahl von Hoffnung ins Gemuͤth fallen, daß hier wohl Etwas mit dem Princip des Mechanismus der Natur, ohne das es ohnedies keine Naturwiſſenſchaft geben kann, auszurichten ſein moͤchte. Dieſe Analogie der Formen, ſo fern ſie bei aller Verſchiedenheit einem gemeinſchaftlichen Urbilde gemaͤß er- zeugt zu ſein ſcheinen, verſtaͤrkt die Vermuthung einer wirklichen Verwandtſchaft derſelben in der Erzeugung von einer gemeinſchaft- lichen Urmutter durch die ſtufenartige Annaͤherung einer Thiergattung zur anderen, von derjenigen an, in welcher das Princip der Zwecke am meiſten bewaͤhrt zu ſein ſcheint, naͤmlich dem Menſchen, bis zum Polyp, von dieſem ſogar bis zu Mooſen und Flechten, und endlich zu der niedrigſten uns merklichen Stufe der Natur, zur rohen Materie: aus welcher und ihren Kraͤften nach mechaniſchen Geſetzen (gleich denen, danach ſie in Kryſtallerzeugungen wirkt) die ganze Technik der Natur, die uns in organiſirten Weſen ſo unbegreiflich iſt, daß wir uns dazu ein anderes Princip zu denken ge- noͤthigt glauben, abzuſtammen ſcheint. Hier ſteht es nun dem Ar- chaͤologen der Natur frei, aus den uͤbrig gebliebenen Spuren ihrer aͤlteſten Revolutionen, nach allen ihm bekannten oder gemuthmaßten Mechanismen derſelben, jene große Familie von Geſchoͤpfen (denn ſo muͤßte man ſie ſich vorſtellen, wenn die genannte, durchgaͤn- 6 *

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/104>, abgerufen am 24.11.2024.