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Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868.

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Kant's dualistische Biologie.
anorganischen Naturkörper) sollen alle Erscheinungen blos durch Me-
chanismus
(causa efficiens), ohne Dazwischenkunft eines End-
zweckes erklärbar sein. Jn der gesammten Biologie dagegen, in der
Botanik, Zoologie und Anthropologie, soll der Mechanismus nicht
ausreichend sein, uns alle Erscheinungen zu erklären; vielmehr können
wir dieselben nur durch Annahme einer zweckmäßig wirkenden End-
ursache
(causa finalis) begreifen. An mehreren Stellen hebt Kant
ausdrücklich hervor, daß man, von einem streng naturwissenschaft-
lich-philosophischen Standpunkt aus, für alle Erscheinungen ohne
Ausnahme eine mechanische Erklärungsweise fordern müsse, und daß
der Mechanismus allein eine wirkliche Erklärung ein-
schließe. Zugleich meint er aber, daß gegenüber den belebten Naturkör-
pern, den Thieren und Pflanzen, unser menschliches Erkenntnißver-
mögen beschränkt sei, und nicht ausreiche, um hinter die eigentliche
wirksame Ursache der organischen Vorgänge, insbesondere der Ent-
stehung der organischen Formen, zu gelangen. Die Befugniß der
menschlichen Vernunft zur mechanischen Erklärung aller Erscheinun-
gen sei unbeschränkt, aber ihr Vermögen dazu begrenzt, indem man
die organische Natur nur teleologisch betrachten könne.

Nun sind aber einige Stellen sehr merkwürdig, in denen Kant
auffallend von dieser Anschauung abweicht, und mehr oder minder
bestimmt den Grundgedanken der Abstammungslehre ausspricht. Er
behauptet da sogar die Nothwendigkeit einer genealogischen Auffassung
des organischen Systems, wenn man überhaupt zu einem wissenschaft-
lichen Verständniß desselben gelangen wolle. Die wichtigste und merk-
würdigste von diesen Stellen sindet sich in der "Methodenlehre der te-
leologischen Urtheilskraft" (§. 79), welche 1790 in der "Kritik der Ur-
theilskraft" erschien. Bei dem außerordentlichen Jnteresse, welches
diese Stelle sowohl für die Beurtheilung der Kantischen Philosophie,
als für die Geschichte der Descendenztheorie besitzt, erlaube ich mir,
Jhnen dieselbe hier wörtlich mitzutheilen.

"Es ist rühmlich, mittelst einer comparativen Anatomie die große
Schöpfung organisirter Naturen durchzugehen, um zu sehen: ob sich

Kant’s dualiſtiſche Biologie.
anorganiſchen Naturkoͤrper) ſollen alle Erſcheinungen blos durch Me-
chanismus
(causa efficiens), ohne Dazwiſchenkunft eines End-
zweckes erklaͤrbar ſein. Jn der geſammten Biologie dagegen, in der
Botanik, Zoologie und Anthropologie, ſoll der Mechanismus nicht
ausreichend ſein, uns alle Erſcheinungen zu erklaͤren; vielmehr koͤnnen
wir dieſelben nur durch Annahme einer zweckmaͤßig wirkenden End-
urſache
(causa finalis) begreifen. An mehreren Stellen hebt Kant
ausdruͤcklich hervor, daß man, von einem ſtreng naturwiſſenſchaft-
lich-philoſophiſchen Standpunkt aus, fuͤr alle Erſcheinungen ohne
Ausnahme eine mechaniſche Erklaͤrungsweiſe fordern muͤſſe, und daß
der Mechanismus allein eine wirkliche Erklaͤrung ein-
ſchließe. Zugleich meint er aber, daß gegenuͤber den belebten Naturkoͤr-
pern, den Thieren und Pflanzen, unſer menſchliches Erkenntnißver-
moͤgen beſchraͤnkt ſei, und nicht ausreiche, um hinter die eigentliche
wirkſame Urſache der organiſchen Vorgaͤnge, insbeſondere der Ent-
ſtehung der organiſchen Formen, zu gelangen. Die Befugniß der
menſchlichen Vernunft zur mechaniſchen Erklaͤrung aller Erſcheinun-
gen ſei unbeſchraͤnkt, aber ihr Vermoͤgen dazu begrenzt, indem man
die organiſche Natur nur teleologiſch betrachten koͤnne.

Nun ſind aber einige Stellen ſehr merkwuͤrdig, in denen Kant
auffallend von dieſer Anſchauung abweicht, und mehr oder minder
beſtimmt den Grundgedanken der Abſtammungslehre ausſpricht. Er
behauptet da ſogar die Nothwendigkeit einer genealogiſchen Auffaſſung
des organiſchen Syſtems, wenn man uͤberhaupt zu einem wiſſenſchaft-
lichen Verſtaͤndniß deſſelben gelangen wolle. Die wichtigſte und merk-
wuͤrdigſte von dieſen Stellen ſindet ſich in der „Methodenlehre der te-
leologiſchen Urtheilskraft“ (§. 79), welche 1790 in der „Kritik der Ur-
theilskraft“ erſchien. Bei dem außerordentlichen Jntereſſe, welches
dieſe Stelle ſowohl fuͤr die Beurtheilung der Kantiſchen Philoſophie,
als fuͤr die Geſchichte der Deſcendenztheorie beſitzt, erlaube ich mir,
Jhnen dieſelbe hier woͤrtlich mitzutheilen.

„Es iſt ruͤhmlich, mittelſt einer comparativen Anatomie die große
Schoͤpfung organiſirter Naturen durchzugehen, um zu ſehen: ob ſich

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[82/0103] Kant’s dualiſtiſche Biologie. anorganiſchen Naturkoͤrper) ſollen alle Erſcheinungen blos durch Me- chanismus (causa efficiens), ohne Dazwiſchenkunft eines End- zweckes erklaͤrbar ſein. Jn der geſammten Biologie dagegen, in der Botanik, Zoologie und Anthropologie, ſoll der Mechanismus nicht ausreichend ſein, uns alle Erſcheinungen zu erklaͤren; vielmehr koͤnnen wir dieſelben nur durch Annahme einer zweckmaͤßig wirkenden End- urſache (causa finalis) begreifen. An mehreren Stellen hebt Kant ausdruͤcklich hervor, daß man, von einem ſtreng naturwiſſenſchaft- lich-philoſophiſchen Standpunkt aus, fuͤr alle Erſcheinungen ohne Ausnahme eine mechaniſche Erklaͤrungsweiſe fordern muͤſſe, und daß der Mechanismus allein eine wirkliche Erklaͤrung ein- ſchließe. Zugleich meint er aber, daß gegenuͤber den belebten Naturkoͤr- pern, den Thieren und Pflanzen, unſer menſchliches Erkenntnißver- moͤgen beſchraͤnkt ſei, und nicht ausreiche, um hinter die eigentliche wirkſame Urſache der organiſchen Vorgaͤnge, insbeſondere der Ent- ſtehung der organiſchen Formen, zu gelangen. Die Befugniß der menſchlichen Vernunft zur mechaniſchen Erklaͤrung aller Erſcheinun- gen ſei unbeſchraͤnkt, aber ihr Vermoͤgen dazu begrenzt, indem man die organiſche Natur nur teleologiſch betrachten koͤnne. Nun ſind aber einige Stellen ſehr merkwuͤrdig, in denen Kant auffallend von dieſer Anſchauung abweicht, und mehr oder minder beſtimmt den Grundgedanken der Abſtammungslehre ausſpricht. Er behauptet da ſogar die Nothwendigkeit einer genealogiſchen Auffaſſung des organiſchen Syſtems, wenn man uͤberhaupt zu einem wiſſenſchaft- lichen Verſtaͤndniß deſſelben gelangen wolle. Die wichtigſte und merk- wuͤrdigſte von dieſen Stellen ſindet ſich in der „Methodenlehre der te- leologiſchen Urtheilskraft“ (§. 79), welche 1790 in der „Kritik der Ur- theilskraft“ erſchien. Bei dem außerordentlichen Jntereſſe, welches dieſe Stelle ſowohl fuͤr die Beurtheilung der Kantiſchen Philoſophie, als fuͤr die Geſchichte der Deſcendenztheorie beſitzt, erlaube ich mir, Jhnen dieſelbe hier woͤrtlich mitzutheilen. „Es iſt ruͤhmlich, mittelſt einer comparativen Anatomie die große Schoͤpfung organiſirter Naturen durchzugehen, um zu ſehen: ob ſich

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Natürliche Schöpfungsgeschichte. Berlin, 1868, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_schoepfungsgeschichte_1868/103>, abgerufen am 25.11.2024.