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Haeckel, Ernst: Die Perigenesis der Plastidule oder die Wellenerzeugung der Lebenstheilchen. Berlin, 1876.

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auch für jene beiden wichtigsten "formbildenden Functionen"
der Organismen dargethan. Denn wenn die heutige Phy¬
siologie mit vollem Rechte dem Vitalismus und der Tele¬
ologie ihre Pforte verschliesst, wenn sie jede mystische
und übernatürliche Action nach Art der "Lebenskraft"
verwirft und auf ihrem Gebiete nur physikalisch-chemische
-- oder in weiterem Sinne "mechanische" -- Kräfte
wirken lässt, so muss sie auch für die beiden wichtigsten
Lebensthätigkeiten der Formbildung, für die Vererbung
und Anpassung, eine solche mechanische Erklärung suchen.
Und wenn unser grosser kritischer Philosoph Immanuel Kant
mit vollem Rechte an die Naturwissenschaft die Forderung
stellt, überall mechanische Ursachen (causae efficientes) an
die Stelle der zweckthätigen Ursachen (causae finales) zu
setzen; wenn Kant ferner behauptet, dass der Mechanismus
allein eine wirkliche Erklärung der Erscheinungen ein¬
schliesse, und dass es "ohne das Princip des Mechanismus
in der Natur überhaupt keine Naturwissenschaft geben
könne", so werden wir auch für unsere Entwickelungs¬
geschichte als echte Naturwissenschaft diesen monistischen
Standpunkt als den allein berechtigten anerkennen und für
die physikalischen Thatsachen der organischen Entwickelung
auch nur nach mechanischen Ursachen suchen dürfen.

Nun hat aber die moderne Physiologie, der eigentlich
diese Aufgabe zufällt, bis heute noch nicht den Versuch
gewagt, die Vererbung und Anpassung in diesem Sinne
wirklich in Angriff zu nehmen und die Elementar-Vor¬
gänge in beiden physiologischen Functionen aufzusuchen.
Einen einzigen derartigen Versuch hat bis jetzt nur Charles
Darwin
unternommen, als er 1868 seine "provisorische


auch für jene beiden wichtigsten „formbildenden Functionen“
der Organismen dargethan. Denn wenn die heutige Phy¬
siologie mit vollem Rechte dem Vitalismus und der Tele¬
ologie ihre Pforte verschliesst, wenn sie jede mystische
und übernatürliche Action nach Art der „Lebenskraft“
verwirft und auf ihrem Gebiete nur physikalisch-chemische
— oder in weiterem Sinne „mechanische“ — Kräfte
wirken lässt, so muss sie auch für die beiden wichtigsten
Lebensthätigkeiten der Formbildung, für die Vererbung
und Anpassung, eine solche mechanische Erklärung suchen.
Und wenn unser grosser kritischer Philosoph Immanuel Kant
mit vollem Rechte an die Naturwissenschaft die Forderung
stellt, überall mechanische Ursachen (causae efficientes) an
die Stelle der zweckthätigen Ursachen (causae finales) zu
setzen; wenn Kant ferner behauptet, dass der Mechanismus
allein eine wirkliche Erklärung der Erscheinungen ein¬
schliesse, und dass es „ohne das Princip des Mechanismus
in der Natur überhaupt keine Naturwissenschaft geben
könne“, so werden wir auch für unsere Entwickelungs¬
geschichte als echte Naturwissenschaft diesen monistischen
Standpunkt als den allein berechtigten anerkennen und für
die physikalischen Thatsachen der organischen Entwickelung
auch nur nach mechanischen Ursachen suchen dürfen.

Nun hat aber die moderne Physiologie, der eigentlich
diese Aufgabe zufällt, bis heute noch nicht den Versuch
gewagt, die Vererbung und Anpassung in diesem Sinne
wirklich in Angriff zu nehmen und die Elementar-Vor¬
gänge in beiden physiologischen Functionen aufzusuchen.
Einen einzigen derartigen Versuch hat bis jetzt nur Charles
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unternommen, als er 1868 seine „provisorische

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[13/0019] auch für jene beiden wichtigsten „formbildenden Functionen“ der Organismen dargethan. Denn wenn die heutige Phy¬ siologie mit vollem Rechte dem Vitalismus und der Tele¬ ologie ihre Pforte verschliesst, wenn sie jede mystische und übernatürliche Action nach Art der „Lebenskraft“ verwirft und auf ihrem Gebiete nur physikalisch-chemische — oder in weiterem Sinne „mechanische“ — Kräfte wirken lässt, so muss sie auch für die beiden wichtigsten Lebensthätigkeiten der Formbildung, für die Vererbung und Anpassung, eine solche mechanische Erklärung suchen. Und wenn unser grosser kritischer Philosoph Immanuel Kant mit vollem Rechte an die Naturwissenschaft die Forderung stellt, überall mechanische Ursachen (causae efficientes) an die Stelle der zweckthätigen Ursachen (causae finales) zu setzen; wenn Kant ferner behauptet, dass der Mechanismus allein eine wirkliche Erklärung der Erscheinungen ein¬ schliesse, und dass es „ohne das Princip des Mechanismus in der Natur überhaupt keine Naturwissenschaft geben könne“, so werden wir auch für unsere Entwickelungs¬ geschichte als echte Naturwissenschaft diesen monistischen Standpunkt als den allein berechtigten anerkennen und für die physikalischen Thatsachen der organischen Entwickelung auch nur nach mechanischen Ursachen suchen dürfen. Nun hat aber die moderne Physiologie, der eigentlich diese Aufgabe zufällt, bis heute noch nicht den Versuch gewagt, die Vererbung und Anpassung in diesem Sinne wirklich in Angriff zu nehmen und die Elementar-Vor¬ gänge in beiden physiologischen Functionen aufzusuchen. Einen einzigen derartigen Versuch hat bis jetzt nur Charles Darwin unternommen, als er 1868 seine „provisorische

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Zitationshilfe: Haeckel, Ernst: Die Perigenesis der Plastidule oder die Wellenerzeugung der Lebenstheilchen. Berlin, 1876, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_plastidule_1876/19>, abgerufen am 26.04.2024.