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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Eintheilung der Morphologie in untergeordnete Wissenschaften.

Die gegenwärtig leider noch fast allgemein herrschende syste-
matische Kleinigkeitskrämerei und Speciesfabrication verhält sich zur
Systematik der Zukunft, deren Aufgabe wir hier formuliren, ungefähr
so, wie etwa die Statistik einzelner Staaten, die Chronikschreiberei
einzelner Städte und die Biographie einzelner Menschen zu der Völker-
geschichte (oder sogenannten Weltgeschichte), welche die Aufgabe des
Historikers ist. Wie der Historiker den gesetzmässigen Zusammen-
hang in der Masse der einzelnen Erscheinungen erfassen und aus den
Biographieen der einzelnen hervorragenden Individuen, den Chroniken
der Städte und den Statistiken der Staaten sich das Bild der Völker
und die Entwickelungsgeschichte der Nationen construiren soll, so soll
der Systematiker als wirklicher vergleichender Morphologe aus der
Kenntniss der Species sich das Bild der Klasse, und aus der Ent-
wickelungsgeschichte der Arten diejenige der Stämme construiren. Die
Geschichtstabellen des Historikers sollen dasselbe für die Völkerge-
schichte, wie das morphologische System für die Geschichte der Or-
ganismen leisten.

Die Anatomie haben wir bereits oben als die Lehre von der
vollendeten Form der Organismen
definirt und sie als solche
der coordinirten Morphogenie oder Entwickelungsgeschichte entgegen-
gesetzt, welche die Lehre von der werdenden Form der Organismen
ist. Wenn man die Entwickelungs-Geschichte, wie es streng genommen
bei vollkommener Erkenntniss ihrer Gesetze der Fall sein müsste, von
der Morphologie trennen und als dynamische Disciplin zur Physio-
logie hinüberstellen wollte, so würde die Anatomie (im weitesten Sinne)
als alleiniger Inhalt der Morphologie übrig bleiben und würden mit-
hin diese beiden Begriffe zusammenfallen.

Welches Verhältniss die Anatomie im Ganzen zur Systematik hat,
der man sie so häufig als eine besondere coordinirte Disciplin gegen-
überstellt, wird aus dem Vorhergehenden klar geworden sein. Es ist
hier nur nochmals ausdrücklich zu wiederholen, dass die Anatomie
die gesammte vollendete Form des Organismus (d. h. äussere Ge-
stalt und innere Structur-Verhältnisse) zu betrachten hat, und dass es
auf einer vollkommen schiefen Auffassung beruht, wenn man, wie es

Kategorieen ihres Systems bilden sollten. Wie viele Morphologen (sowohl Anato-
men als Systematiker) giebt es nicht, die ihre Lebtage nicht von einem solchen
Blatte heruntergekommen, die niemals unter der Baumrinde hervorgekrochen sind,
und die dennoch in dem Wahne arbeiten, eine vollkommene Uebersicht des gan-
zen Baumes nicht nur, sondern des ganzen Waldes zu haben! Diese Uebersicht
kann nur das vollendete Insect sich erwerben, welches den flügellosen Larvenzu-
stand überwunden, die Puppenhülle abgestreift und sich mittelst seiner Flügel
über den engen Bezirk der Einzelbetrachtung erhoben hat, auf welche es im flü-
gellosen Zustande allein beschränkt war.
Eintheilung der Morphologie in untergeordnete Wissenschaften.

Die gegenwärtig leider noch fast allgemein herrschende syste-
matische Kleinigkeitskrämerei und Speciesfabrication verhält sich zur
Systematik der Zukunft, deren Aufgabe wir hier formuliren, ungefähr
so, wie etwa die Statistik einzelner Staaten, die Chronikschreiberei
einzelner Städte und die Biographie einzelner Menschen zu der Völker-
geschichte (oder sogenannten Weltgeschichte), welche die Aufgabe des
Historikers ist. Wie der Historiker den gesetzmässigen Zusammen-
hang in der Masse der einzelnen Erscheinungen erfassen und aus den
Biographieen der einzelnen hervorragenden Individuen, den Chroniken
der Städte und den Statistiken der Staaten sich das Bild der Völker
und die Entwickelungsgeschichte der Nationen construiren soll, so soll
der Systematiker als wirklicher vergleichender Morphologe aus der
Kenntniss der Species sich das Bild der Klasse, und aus der Ent-
wickelungsgeschichte der Arten diejenige der Stämme construiren. Die
Geschichtstabellen des Historikers sollen dasselbe für die Völkerge-
schichte, wie das morphologische System für die Geschichte der Or-
ganismen leisten.

Die Anatomie haben wir bereits oben als die Lehre von der
vollendeten Form der Organismen
definirt und sie als solche
der coordinirten Morphogenie oder Entwickelungsgeschichte entgegen-
gesetzt, welche die Lehre von der werdenden Form der Organismen
ist. Wenn man die Entwickelungs-Geschichte, wie es streng genommen
bei vollkommener Erkenntniss ihrer Gesetze der Fall sein müsste, von
der Morphologie trennen und als dynamische Disciplin zur Physio-
logie hinüberstellen wollte, so würde die Anatomie (im weitesten Sinne)
als alleiniger Inhalt der Morphologie übrig bleiben und würden mit-
hin diese beiden Begriffe zusammenfallen.

Welches Verhältniss die Anatomie im Ganzen zur Systematik hat,
der man sie so häufig als eine besondere coordinirte Disciplin gegen-
überstellt, wird aus dem Vorhergehenden klar geworden sein. Es ist
hier nur nochmals ausdrücklich zu wiederholen, dass die Anatomie
die gesammte vollendete Form des Organismus (d. h. äussere Ge-
stalt und innere Structur-Verhältnisse) zu betrachten hat, und dass es
auf einer vollkommen schiefen Auffassung beruht, wenn man, wie es

Kategorieen ihres Systems bilden sollten. Wie viele Morphologen (sowohl Anato-
men als Systematiker) giebt es nicht, die ihre Lebtage nicht von einem solchen
Blatte heruntergekommen, die niemals unter der Baumrinde hervorgekrochen sind,
und die dennoch in dem Wahne arbeiten, eine vollkommene Uebersicht des gan-
zen Baumes nicht nur, sondern des ganzen Waldes zu haben! Diese Uebersicht
kann nur das vollendete Insect sich erwerben, welches den flügellosen Larvenzu-
stand überwunden, die Puppenhülle abgestreift und sich mittelst seiner Flügel
über den engen Bezirk der Einzelbetrachtung erhoben hat, auf welche es im flü-
gellosen Zustande allein beschränkt war.
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[40/0079] Eintheilung der Morphologie in untergeordnete Wissenschaften. Die gegenwärtig leider noch fast allgemein herrschende syste- matische Kleinigkeitskrämerei und Speciesfabrication verhält sich zur Systematik der Zukunft, deren Aufgabe wir hier formuliren, ungefähr so, wie etwa die Statistik einzelner Staaten, die Chronikschreiberei einzelner Städte und die Biographie einzelner Menschen zu der Völker- geschichte (oder sogenannten Weltgeschichte), welche die Aufgabe des Historikers ist. Wie der Historiker den gesetzmässigen Zusammen- hang in der Masse der einzelnen Erscheinungen erfassen und aus den Biographieen der einzelnen hervorragenden Individuen, den Chroniken der Städte und den Statistiken der Staaten sich das Bild der Völker und die Entwickelungsgeschichte der Nationen construiren soll, so soll der Systematiker als wirklicher vergleichender Morphologe aus der Kenntniss der Species sich das Bild der Klasse, und aus der Ent- wickelungsgeschichte der Arten diejenige der Stämme construiren. Die Geschichtstabellen des Historikers sollen dasselbe für die Völkerge- schichte, wie das morphologische System für die Geschichte der Or- ganismen leisten. Die Anatomie haben wir bereits oben als die Lehre von der vollendeten Form der Organismen definirt und sie als solche der coordinirten Morphogenie oder Entwickelungsgeschichte entgegen- gesetzt, welche die Lehre von der werdenden Form der Organismen ist. Wenn man die Entwickelungs-Geschichte, wie es streng genommen bei vollkommener Erkenntniss ihrer Gesetze der Fall sein müsste, von der Morphologie trennen und als dynamische Disciplin zur Physio- logie hinüberstellen wollte, so würde die Anatomie (im weitesten Sinne) als alleiniger Inhalt der Morphologie übrig bleiben und würden mit- hin diese beiden Begriffe zusammenfallen. Welches Verhältniss die Anatomie im Ganzen zur Systematik hat, der man sie so häufig als eine besondere coordinirte Disciplin gegen- überstellt, wird aus dem Vorhergehenden klar geworden sein. Es ist hier nur nochmals ausdrücklich zu wiederholen, dass die Anatomie die gesammte vollendete Form des Organismus (d. h. äussere Ge- stalt und innere Structur-Verhältnisse) zu betrachten hat, und dass es auf einer vollkommen schiefen Auffassung beruht, wenn man, wie es 1) 1) Kategorieen ihres Systems bilden sollten. Wie viele Morphologen (sowohl Anato- men als Systematiker) giebt es nicht, die ihre Lebtage nicht von einem solchen Blatte heruntergekommen, die niemals unter der Baumrinde hervorgekrochen sind, und die dennoch in dem Wahne arbeiten, eine vollkommene Uebersicht des gan- zen Baumes nicht nur, sondern des ganzen Waldes zu haben! Diese Uebersicht kann nur das vollendete Insect sich erwerben, welches den flügellosen Larvenzu- stand überwunden, die Puppenhülle abgestreift und sich mittelst seiner Flügel über den engen Bezirk der Einzelbetrachtung erhoben hat, auf welche es im flü- gellosen Zustande allein beschränkt war.

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 40. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/79>, abgerufen am 23.11.2024.