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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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III. Anatomie und Systematik.

Wenn diese unsere Auffassung richtig ist -- und wir können nicht
daran zweifeln -- so können wir nicht länger die Systematik als eine
besondere Wissenschaft neben der Morphologie fortführen, oder sie als
einen besonderen Zweig derselben betrachten. Es ist dann vielmehr
die Systematik der concentrirte Extract aller Resultate der gesammten
Morphologie selbst; es ist lediglich die übersichtliche und compacte
Darstellungsform, welche die Systematik auszeichnet, während
der Morphologie die Aufsuchung und Begründung, die Erklärung und
specielle Betrachtung aller der einzelnen morphologischen Verhältnisse
anheimfällt, über welche uns das System gewissermassen ein übersicht-
lich nach der Blutsverwandtschhft geordnetes Sach- und Namen-
Register
liefert.

Die Kluft, welche diese unsere Auffassung des Verhältnisses der
Systematik zur Morphologie von den gewöhnlichen Ansichten der
Systematiker trennt, ist freilich gross. Wir können aber in der Syste-
matik, soll sie überhaupt eine wissenschaftliche Aufgabe verfolgen,
und nicht blosse Spielerei zur Gemüths- und Augen-Ergötzung sein,
nichts Anderes -- und, sagen wir, nichts Geringeres -- finden, als die sy-
stematische Darstellungsform der gesammten Morphologie selbst. Die
sogenannte Systematik der Thiere und Pflanzen ist die concentrirte
Morphologie der Organismen im knappen systematischen Gewande.

Freilich sind die allermeisten Systeme unserer Zeit noch sehr weit
entfernt davon, dieser Anforderung sich auch nur zu nähern. Da fin-
den wir Hunderte und Tausende von einzelnen Formen beschrieben,
die man ganz willkührlich als "Species" bezeichnet. Diese werden
kurz mit ihren unterscheidenden Characteren aufgeführt, und dann die
nächstverwandten Arten in eine Gattung, die verwandten Gattungen in
eine Familie zusammengestellt u. s. w. Je höher wir in den Kate-
gorieen des Systems hinaufsteigen, desto kürzer und unvollkommener
wird meist ihre Charakteristik, während diese gerade bei den höheren
und umfassenderen Kategorieen (Klasse, Ordnung etc.) am ausführlich-
sten und vollständigsten alle wesentlichen Charactere kurz hervorheben
sollte. Gewöhnlich wird aber diese Hauptaufgabe der Systematik,
namentlich die Begründung der Blutsverwandtschafts-Verhältnisse, voll-
kommen über der ganz untergeordneten Aufgabe der Species-Unter-
scheidung übersehen. 1)

1) Die noch fast überall verbreitete Verkennung dieser eigentlichen hohen
Aufgabe des Systems lässt sich nur durch die mangelhafte allgemein-morpholo-
gische Bildung und durch den gänzlichen Mangel an Uebersicht der Morphologie
erklären, der die meisten Systematiker auszeichnet. In der That sieht die grosse
Mehrzahl, wie das Sprichwort sagt, "den Wald vor lauter Bäumen nicht." Wie
Schnecken oder flügellose Insecten-Larven kriechen sie unter der Rinde und auf den
einzelnen Blättern der Bäume umher, aus deren Verwandtschafts-Beziehungen sie die
III. Anatomie und Systematik.

Wenn diese unsere Auffassung richtig ist — und wir können nicht
daran zweifeln — so können wir nicht länger die Systematik als eine
besondere Wissenschaft neben der Morphologie fortführen, oder sie als
einen besonderen Zweig derselben betrachten. Es ist dann vielmehr
die Systematik der concentrirte Extract aller Resultate der gesammten
Morphologie selbst; es ist lediglich die übersichtliche und compacte
Darstellungsform, welche die Systematik auszeichnet, während
der Morphologie die Aufsuchung und Begründung, die Erklärung und
specielle Betrachtung aller der einzelnen morphologischen Verhältnisse
anheimfällt, über welche uns das System gewissermassen ein übersicht-
lich nach der Blutsverwandtschhft geordnetes Sach- und Namen-
Register
liefert.

Die Kluft, welche diese unsere Auffassung des Verhältnisses der
Systematik zur Morphologie von den gewöhnlichen Ansichten der
Systematiker trennt, ist freilich gross. Wir können aber in der Syste-
matik, soll sie überhaupt eine wissenschaftliche Aufgabe verfolgen,
und nicht blosse Spielerei zur Gemüths- und Augen-Ergötzung sein,
nichts Anderes — und, sagen wir, nichts Geringeres — finden, als die sy-
stematische Darstellungsform der gesammten Morphologie selbst. Die
sogenannte Systematik der Thiere und Pflanzen ist die concentrirte
Morphologie der Organismen im knappen systematischen Gewande.

Freilich sind die allermeisten Systeme unserer Zeit noch sehr weit
entfernt davon, dieser Anforderung sich auch nur zu nähern. Da fin-
den wir Hunderte und Tausende von einzelnen Formen beschrieben,
die man ganz willkührlich als „Species“ bezeichnet. Diese werden
kurz mit ihren unterscheidenden Characteren aufgeführt, und dann die
nächstverwandten Arten in eine Gattung, die verwandten Gattungen in
eine Familie zusammengestellt u. s. w. Je höher wir in den Kate-
gorieen des Systems hinaufsteigen, desto kürzer und unvollkommener
wird meist ihre Charakteristik, während diese gerade bei den höheren
und umfassenderen Kategorieen (Klasse, Ordnung etc.) am ausführlich-
sten und vollständigsten alle wesentlichen Charactere kurz hervorheben
sollte. Gewöhnlich wird aber diese Hauptaufgabe der Systematik,
namentlich die Begründung der Blutsverwandtschafts-Verhältnisse, voll-
kommen über der ganz untergeordneten Aufgabe der Species-Unter-
scheidung übersehen. 1)

1) Die noch fast überall verbreitete Verkennung dieser eigentlichen hohen
Aufgabe des Systems lässt sich nur durch die mangelhafte allgemein-morpholo-
gische Bildung und durch den gänzlichen Mangel an Uebersicht der Morphologie
erklären, der die meisten Systematiker auszeichnet. In der That sieht die grosse
Mehrzahl, wie das Sprichwort sagt, „den Wald vor lauter Bäumen nicht.“ Wie
Schnecken oder flügellose Insecten-Larven kriechen sie unter der Rinde und auf den
einzelnen Blättern der Bäume umher, aus deren Verwandtschafts-Beziehungen sie die
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[39/0078] III. Anatomie und Systematik. Wenn diese unsere Auffassung richtig ist — und wir können nicht daran zweifeln — so können wir nicht länger die Systematik als eine besondere Wissenschaft neben der Morphologie fortführen, oder sie als einen besonderen Zweig derselben betrachten. Es ist dann vielmehr die Systematik der concentrirte Extract aller Resultate der gesammten Morphologie selbst; es ist lediglich die übersichtliche und compacte Darstellungsform, welche die Systematik auszeichnet, während der Morphologie die Aufsuchung und Begründung, die Erklärung und specielle Betrachtung aller der einzelnen morphologischen Verhältnisse anheimfällt, über welche uns das System gewissermassen ein übersicht- lich nach der Blutsverwandtschhft geordnetes Sach- und Namen- Register liefert. Die Kluft, welche diese unsere Auffassung des Verhältnisses der Systematik zur Morphologie von den gewöhnlichen Ansichten der Systematiker trennt, ist freilich gross. Wir können aber in der Syste- matik, soll sie überhaupt eine wissenschaftliche Aufgabe verfolgen, und nicht blosse Spielerei zur Gemüths- und Augen-Ergötzung sein, nichts Anderes — und, sagen wir, nichts Geringeres — finden, als die sy- stematische Darstellungsform der gesammten Morphologie selbst. Die sogenannte Systematik der Thiere und Pflanzen ist die concentrirte Morphologie der Organismen im knappen systematischen Gewande. Freilich sind die allermeisten Systeme unserer Zeit noch sehr weit entfernt davon, dieser Anforderung sich auch nur zu nähern. Da fin- den wir Hunderte und Tausende von einzelnen Formen beschrieben, die man ganz willkührlich als „Species“ bezeichnet. Diese werden kurz mit ihren unterscheidenden Characteren aufgeführt, und dann die nächstverwandten Arten in eine Gattung, die verwandten Gattungen in eine Familie zusammengestellt u. s. w. Je höher wir in den Kate- gorieen des Systems hinaufsteigen, desto kürzer und unvollkommener wird meist ihre Charakteristik, während diese gerade bei den höheren und umfassenderen Kategorieen (Klasse, Ordnung etc.) am ausführlich- sten und vollständigsten alle wesentlichen Charactere kurz hervorheben sollte. Gewöhnlich wird aber diese Hauptaufgabe der Systematik, namentlich die Begründung der Blutsverwandtschafts-Verhältnisse, voll- kommen über der ganz untergeordneten Aufgabe der Species-Unter- scheidung übersehen. 1) 1) Die noch fast überall verbreitete Verkennung dieser eigentlichen hohen Aufgabe des Systems lässt sich nur durch die mangelhafte allgemein-morpholo- gische Bildung und durch den gänzlichen Mangel an Uebersicht der Morphologie erklären, der die meisten Systematiker auszeichnet. In der That sieht die grosse Mehrzahl, wie das Sprichwort sagt, „den Wald vor lauter Bäumen nicht.“ Wie Schnecken oder flügellose Insecten-Larven kriechen sie unter der Rinde und auf den einzelnen Blättern der Bäume umher, aus deren Verwandtschafts-Beziehungen sie die

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 39. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/78>, abgerufen am 23.11.2024.