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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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II. Eintheilung der Anatomie und Morphogenie in vier Wissenschaften.

Ganz anders zeigen sich schon auf den ersten oberflächlichen Blick
die organischen Individuen, wie z. B. die einzelnen Wirbelthiere. Diese
Körper sind durch und durch heterogen, in sich ungleichartig, aus
Molekülen nicht nur, sondern auch aus gröberen Theilen von ganz ver-
schiedener Art zusammengesetzt. Die ungleichartigen Theile, welche
ihren Körper zusammensetzen, können wir, entweder in gröberem oder
in feinerem Sinne, Organe nennen. Diese Zusammensetzung des
organischen Körpers aus verschiedenen Organen ist es, welche in der
gewöhnlichen Anschauung den Organismus macht. Die Morphologie
dieser Körper kann sich mithin unmöglich auf die Untersuchung ihrer
äusseren Form beschränken, sondern sie muss neben dieser nothwendig
ebenso auch die innere Form berücksichtigen, d. h. den Bau (die
Structur) des Organismus, oder seine Zusammensetzung aus verschie-
denen gleichartigen und ungleichartigen Theilen; sowie dann weiter-
hin die Form dieser Theile selbst, ihr gegenseitiges Lagerungs- und
Verbindungs-Verhältniss, und endlich ihre eventuelle weitere Zusam-
mensetzung aus verschiedenartigen Formtheilen, Gegenstand der or-
ganischen Morphologie sein wird. In diesem Sinne könnte man die
Morphologie der Organismen auch als Organologie im weitesten
Sinne bezeichnen, oder besser noch als Merologie, als Lehre von
den Theilen,
oder als Tectologie, als Lehre von der Zusam-
mensetzung des Körpers aus ungleichartigen Theilen
. Gegen
diesen wichtigsten Theil der Morphologie der Organismen tritt die Be-
trachtung ihrer äusseren Form ganz zurück, oder erscheint vielmehr
nur als ein secundäres Resultat der ersteren. Von anderem Gesichts-
punkte aus könnten wir diesen wichtigsten Theil unserer Wissenschaft
auch als Lehre von den Individuen bezeichnen, da nämlich, wie
das dritte Buch zeigen wird, die constituirenden Theile der Indi-
viduen, die wir so eben als Organe verschiedener Ordnung unter-
schieden haben, selbst wieder im gewissen Sinne Individuen sind, so
dass wir den ganzen individuellen Organismus als ein System von
einheitlich verbundenen Individuen verschiedener Ordnung betrachten
können.

Ein zweiter wesentlicher Unterschied in der Form zwischen den
organischen und anorganischen Individuen beruht darauf, dass die Form
der anorganischen Individuen (wenn es nicht vollkommen un-
regelmässig gestaltete, ganz amorphe Körper sind) einer vollkommen
exacten mathematischen Betrachtung ohne Weiteres zugänglich ist, und

fast von allen Naturforschern geschieht. Im zweiten und sechsten Buche wer-
den wir dagegen zeigen, dass diese Unterschiede keineswegs so absoluter
Natur sind und dass auch hier wahre Uebergangsbildungen und Zwischenstufen
vorkommen.
II. Eintheilung der Anatomie und Morphogenie in vier Wissenschaften.

Ganz anders zeigen sich schon auf den ersten oberflächlichen Blick
die organischen Individuen, wie z. B. die einzelnen Wirbelthiere. Diese
Körper sind durch und durch heterogen, in sich ungleichartig, aus
Molekülen nicht nur, sondern auch aus gröberen Theilen von ganz ver-
schiedener Art zusammengesetzt. Die ungleichartigen Theile, welche
ihren Körper zusammensetzen, können wir, entweder in gröberem oder
in feinerem Sinne, Organe nennen. Diese Zusammensetzung des
organischen Körpers aus verschiedenen Organen ist es, welche in der
gewöhnlichen Anschauung den Organismus macht. Die Morphologie
dieser Körper kann sich mithin unmöglich auf die Untersuchung ihrer
äusseren Form beschränken, sondern sie muss neben dieser nothwendig
ebenso auch die innere Form berücksichtigen, d. h. den Bau (die
Structur) des Organismus, oder seine Zusammensetzung aus verschie-
denen gleichartigen und ungleichartigen Theilen; sowie dann weiter-
hin die Form dieser Theile selbst, ihr gegenseitiges Lagerungs- und
Verbindungs-Verhältniss, und endlich ihre eventuelle weitere Zusam-
mensetzung aus verschiedenartigen Formtheilen, Gegenstand der or-
ganischen Morphologie sein wird. In diesem Sinne könnte man die
Morphologie der Organismen auch als Organologie im weitesten
Sinne bezeichnen, oder besser noch als Merologie, als Lehre von
den Theilen,
oder als Tectologie, als Lehre von der Zusam-
mensetzung des Körpers aus ungleichartigen Theilen
. Gegen
diesen wichtigsten Theil der Morphologie der Organismen tritt die Be-
trachtung ihrer äusseren Form ganz zurück, oder erscheint vielmehr
nur als ein secundäres Resultat der ersteren. Von anderem Gesichts-
punkte aus könnten wir diesen wichtigsten Theil unserer Wissenschaft
auch als Lehre von den Individuen bezeichnen, da nämlich, wie
das dritte Buch zeigen wird, die constituirenden Theile der Indi-
viduen, die wir so eben als Organe verschiedener Ordnung unter-
schieden haben, selbst wieder im gewissen Sinne Individuen sind, so
dass wir den ganzen individuellen Organismus als ein System von
einheitlich verbundenen Individuen verschiedener Ordnung betrachten
können.

Ein zweiter wesentlicher Unterschied in der Form zwischen den
organischen und anorganischen Individuen beruht darauf, dass die Form
der anorganischen Individuen (wenn es nicht vollkommen un-
regelmässig gestaltete, ganz amorphe Körper sind) einer vollkommen
exacten mathematischen Betrachtung ohne Weiteres zugänglich ist, und

fast von allen Naturforschern geschieht. Im zweiten und sechsten Buche wer-
den wir dagegen zeigen, dass diese Unterschiede keineswegs so absoluter
Natur sind und dass auch hier wahre Uebergangsbildungen und Zwischenstufen
vorkommen.
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[25/0064] II. Eintheilung der Anatomie und Morphogenie in vier Wissenschaften. Ganz anders zeigen sich schon auf den ersten oberflächlichen Blick die organischen Individuen, wie z. B. die einzelnen Wirbelthiere. Diese Körper sind durch und durch heterogen, in sich ungleichartig, aus Molekülen nicht nur, sondern auch aus gröberen Theilen von ganz ver- schiedener Art zusammengesetzt. Die ungleichartigen Theile, welche ihren Körper zusammensetzen, können wir, entweder in gröberem oder in feinerem Sinne, Organe nennen. Diese Zusammensetzung des organischen Körpers aus verschiedenen Organen ist es, welche in der gewöhnlichen Anschauung den Organismus macht. Die Morphologie dieser Körper kann sich mithin unmöglich auf die Untersuchung ihrer äusseren Form beschränken, sondern sie muss neben dieser nothwendig ebenso auch die innere Form berücksichtigen, d. h. den Bau (die Structur) des Organismus, oder seine Zusammensetzung aus verschie- denen gleichartigen und ungleichartigen Theilen; sowie dann weiter- hin die Form dieser Theile selbst, ihr gegenseitiges Lagerungs- und Verbindungs-Verhältniss, und endlich ihre eventuelle weitere Zusam- mensetzung aus verschiedenartigen Formtheilen, Gegenstand der or- ganischen Morphologie sein wird. In diesem Sinne könnte man die Morphologie der Organismen auch als Organologie im weitesten Sinne bezeichnen, oder besser noch als Merologie, als Lehre von den Theilen, oder als Tectologie, als Lehre von der Zusam- mensetzung des Körpers aus ungleichartigen Theilen. Gegen diesen wichtigsten Theil der Morphologie der Organismen tritt die Be- trachtung ihrer äusseren Form ganz zurück, oder erscheint vielmehr nur als ein secundäres Resultat der ersteren. Von anderem Gesichts- punkte aus könnten wir diesen wichtigsten Theil unserer Wissenschaft auch als Lehre von den Individuen bezeichnen, da nämlich, wie das dritte Buch zeigen wird, die constituirenden Theile der Indi- viduen, die wir so eben als Organe verschiedener Ordnung unter- schieden haben, selbst wieder im gewissen Sinne Individuen sind, so dass wir den ganzen individuellen Organismus als ein System von einheitlich verbundenen Individuen verschiedener Ordnung betrachten können. Ein zweiter wesentlicher Unterschied in der Form zwischen den organischen und anorganischen Individuen beruht darauf, dass die Form der anorganischen Individuen (wenn es nicht vollkommen un- regelmässig gestaltete, ganz amorphe Körper sind) einer vollkommen exacten mathematischen Betrachtung ohne Weiteres zugänglich ist, und 1) 1) fast von allen Naturforschern geschieht. Im zweiten und sechsten Buche wer- den wir dagegen zeigen, dass diese Unterschiede keineswegs so absoluter Natur sind und dass auch hier wahre Uebergangsbildungen und Zwischenstufen vorkommen.

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/64>, abgerufen am 24.11.2024.