Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.Morphologische Individualität der Organismen. der Hydroidpolypen sind die Grenzen der Metameren meistens an denRingelungen oder Gliederungen der Hauptsprossen und Seitensprossen (Personen) zu erkennen, welche die Stöcke zusammensetzen, bei den mei- sten Siphonophoren an der regelmässigen Wiederholung der Metameren ("Individuen") an den primären und secundären Sprossen der Stöcke. Durch die Coelenteraten, und insbesondere die Hydromedusen, werden In der That ist es überraschend, dieselbe wesentliche Zusammensetzung 1) Ausser der p. 240 angeführten Stelle, in welcher Goethe die fundamen-
talen Gesetze der Aggregation und Differenzirung (Arbeitstheilung) lange vor Bronn und Milne Edwards ausspricht, und einzelnen anderen Stellen in der "Metamorphose der Pflanze" ist besonders nachfolgender, von Eckermann (Ge- spräche mit Göthe, 1837, Vol. II, p. 65) verzeichneter Ausspruch Göthe's sehr merkwürdig: "Grosse Geheimnisse liegen noch verborgen, manches weiss ich, von vielem habe ich eine Ahnung. Etwas will ich Ihnen vertrauen und mich wunderlich dabei ausdrücken. Die Pflanze geht von Knoten zu Knoten, und schliesst zuletzt ab mit der Blüthe und dem Samen. In der Thierwelt ist es nicht anders. Die Raupe, der Bandwurm geht von Knoten zu Knoten und bildet zuletzt einen Kopf; bei den höher stehenden Thieren und Menschen sind es die Wirbelknochen, die sich anfügen und anfügen, und mit dem Kopfe abschliessen, in welchem sich die Kräfte concentriren. Was so bei Einzelnen geschieht, ge- Morphologische Individualität der Organismen. der Hydroidpolypen sind die Grenzen der Metameren meistens an denRingelungen oder Gliederungen der Hauptsprossen und Seitensprossen (Personen) zu erkennen, welche die Stöcke zusammensetzen, bei den mei- sten Siphonophoren an der regelmässigen Wiederholung der Metameren („Individuen“) an den primären und secundären Sprossen der Stöcke. Durch die Coelenteraten, und insbesondere die Hydromedusen, werden In der That ist es überraschend, dieselbe wesentliche Zusammensetzung 1) Ausser der p. 240 angeführten Stelle, in welcher Goethe die fundamen-
talen Gesetze der Aggregation und Differenzirung (Arbeitstheilung) lange vor Bronn und Milne Edwards ausspricht, und einzelnen anderen Stellen in der „Metamorphose der Pflanze“ ist besonders nachfolgender, von Eckermann (Ge- spräche mit Göthe, 1837, Vol. II, p. 65) verzeichneter Ausspruch Göthe’s sehr merkwürdig: „Grosse Geheimnisse liegen noch verborgen, manches weiss ich, von vielem habe ich eine Ahnung. Etwas will ich Ihnen vertrauen und mich wunderlich dabei ausdrücken. Die Pflanze geht von Knoten zu Knoten, und schliesst zuletzt ab mit der Blüthe und dem Samen. In der Thierwelt ist es nicht anders. Die Raupe, der Bandwurm geht von Knoten zu Knoten und bildet zuletzt einen Kopf; bei den höher stehenden Thieren und Menschen sind es die Wirbelknochen, die sich anfügen und anfügen, und mit dem Kopfe abschliessen, in welchem sich die Kräfte concentriren. Was so bei Einzelnen geschieht, ge- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0361" n="322"/><fw place="top" type="header">Morphologische Individualität der Organismen.</fw><lb/> der Hydroidpolypen sind die Grenzen der Metameren meistens an den<lb/> Ringelungen oder Gliederungen der Hauptsprossen und Seitensprossen<lb/> (Personen) zu erkennen, welche die Stöcke zusammensetzen, bei den mei-<lb/> sten Siphonophoren an der regelmässigen Wiederholung der Metameren<lb/> („Individuen“) an den primären und secundären Sprossen der Stöcke.</p><lb/> <p>Durch die Coelenteraten, und insbesondere die Hydromedusen, werden<lb/> wir unmittelbar zu den <hi rendition="#g">Pflanzen</hi> hinübergeführt, unter denen uns die<lb/> Phanerogamen und höheren Cryptogamen wesentlich dieselbe tectologische<lb/> Zusammensetzung erkennen lassen. Diejenige Individualität, welche wir<lb/> bei den Coelenteraten-Stöcken mit Recht als „Einzelthier“ betrachten und<lb/> der Person der Articulaten und Vertebraten an die Seite stellen, wird hier<lb/> bei den höheren Pflanzen durch den Spross oder Blastus vertreten, d. h.<lb/> durch diejenigen Theile des Pflanzenstockes, welche als eigene „Axen“<lb/> oder „Seitenaxen,“ als selbstständige, aus einem Axenorgan (Stengel) und<lb/> Blättern (Blattorganen) zusammengesetzten Theile, von der „Hauptaxe“<lb/> der ursprünglichen Einzelpflanze seitlich abgehen. Mit seltenen Ausnahmen<lb/> (Viscum) ist jeder dieser seitlichen Sprosse ebenso aus einer Anzahl von<lb/> hinter einander gelegenen Metameren (Stengelgliedern, Internodia) zusam-<lb/> mengesetzt, wie bei den meisten Coelenteraten und Articulaten und bei allen<lb/> Vertebraten. Auch die verschiedene Art und Weise, in welcher diese ge-<lb/> gliederten Sprosse zu der höheren Individualität des Stockes zusammenge-<lb/> setzt sind, erscheint bei den Phanerogamen durchaus analog, wie bei den<lb/> Coelenteraten, bei den Anthozoen und Hydromedusen.</p><lb/> <p>In der That ist es überraschend, dieselbe wesentliche Zusammensetzung<lb/> der Person in der ganzen Organismen-Welt, vom Moose bis zum Baume,<lb/> vom Bandwurm bis zum Menschen überall wieder zu finden. Stets ist das<lb/> morphologische Individuum fünfter Ordnung, welches eine so grosse physio-<lb/> logische Rolle spielt, aus einer Vielheit von Metameren und Antimeren zu-<lb/> sammengesetzt, deren jedes wieder aus einem Organ-Complex besteht. Nie-<lb/> mand hat vielleicht dieser grossen Wahrheit sich mehr genähert als <hi rendition="#g">Goethe,</hi><lb/> dessen klarer Blick das innere Wesen der „organischen Naturen“ ohne<lb/> Mikroskop richtiger erkannte, als das mit dem Mikroskop bewaffnete Auge<lb/> der gedankenlosen Naturforscher von Fach.<note xml:id="seg2pn_21_1" next="#seg2pn_21_2" place="foot" n="1)">Ausser der p. 240 angeführten Stelle, in welcher <hi rendition="#g">Goethe</hi> die fundamen-<lb/> talen Gesetze der Aggregation und Differenzirung (Arbeitstheilung) lange vor<lb/><hi rendition="#g">Bronn</hi> und <hi rendition="#g">Milne Edwards</hi> ausspricht, und einzelnen anderen Stellen in der<lb/> „Metamorphose der Pflanze“ ist besonders nachfolgender, von <hi rendition="#g">Eckermann</hi> (Ge-<lb/> spräche mit <hi rendition="#g">Göthe,</hi> 1837, Vol. II, p. 65) verzeichneter Ausspruch <hi rendition="#g">Göthe’s</hi><lb/> sehr merkwürdig: „Grosse Geheimnisse liegen noch verborgen, manches weiss<lb/> ich, von vielem habe ich eine Ahnung. Etwas will ich Ihnen vertrauen und mich<lb/> wunderlich dabei ausdrücken. Die Pflanze geht von Knoten zu Knoten, und<lb/> schliesst zuletzt ab mit der Blüthe und dem Samen. In der Thierwelt ist es<lb/> nicht anders. Die Raupe, der Bandwurm geht von Knoten zu Knoten und bildet<lb/> zuletzt einen Kopf; bei den höher stehenden Thieren und Menschen sind es die<lb/> Wirbelknochen, die sich anfügen und anfügen, und mit dem Kopfe abschliessen,<lb/> in welchem sich die Kräfte concentriren. Was so bei Einzelnen geschieht, ge-</note></p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [322/0361]
Morphologische Individualität der Organismen.
der Hydroidpolypen sind die Grenzen der Metameren meistens an den
Ringelungen oder Gliederungen der Hauptsprossen und Seitensprossen
(Personen) zu erkennen, welche die Stöcke zusammensetzen, bei den mei-
sten Siphonophoren an der regelmässigen Wiederholung der Metameren
(„Individuen“) an den primären und secundären Sprossen der Stöcke.
Durch die Coelenteraten, und insbesondere die Hydromedusen, werden
wir unmittelbar zu den Pflanzen hinübergeführt, unter denen uns die
Phanerogamen und höheren Cryptogamen wesentlich dieselbe tectologische
Zusammensetzung erkennen lassen. Diejenige Individualität, welche wir
bei den Coelenteraten-Stöcken mit Recht als „Einzelthier“ betrachten und
der Person der Articulaten und Vertebraten an die Seite stellen, wird hier
bei den höheren Pflanzen durch den Spross oder Blastus vertreten, d. h.
durch diejenigen Theile des Pflanzenstockes, welche als eigene „Axen“
oder „Seitenaxen,“ als selbstständige, aus einem Axenorgan (Stengel) und
Blättern (Blattorganen) zusammengesetzten Theile, von der „Hauptaxe“
der ursprünglichen Einzelpflanze seitlich abgehen. Mit seltenen Ausnahmen
(Viscum) ist jeder dieser seitlichen Sprosse ebenso aus einer Anzahl von
hinter einander gelegenen Metameren (Stengelgliedern, Internodia) zusam-
mengesetzt, wie bei den meisten Coelenteraten und Articulaten und bei allen
Vertebraten. Auch die verschiedene Art und Weise, in welcher diese ge-
gliederten Sprosse zu der höheren Individualität des Stockes zusammenge-
setzt sind, erscheint bei den Phanerogamen durchaus analog, wie bei den
Coelenteraten, bei den Anthozoen und Hydromedusen.
In der That ist es überraschend, dieselbe wesentliche Zusammensetzung
der Person in der ganzen Organismen-Welt, vom Moose bis zum Baume,
vom Bandwurm bis zum Menschen überall wieder zu finden. Stets ist das
morphologische Individuum fünfter Ordnung, welches eine so grosse physio-
logische Rolle spielt, aus einer Vielheit von Metameren und Antimeren zu-
sammengesetzt, deren jedes wieder aus einem Organ-Complex besteht. Nie-
mand hat vielleicht dieser grossen Wahrheit sich mehr genähert als Goethe,
dessen klarer Blick das innere Wesen der „organischen Naturen“ ohne
Mikroskop richtiger erkannte, als das mit dem Mikroskop bewaffnete Auge
der gedankenlosen Naturforscher von Fach. 1)
1) Ausser der p. 240 angeführten Stelle, in welcher Goethe die fundamen-
talen Gesetze der Aggregation und Differenzirung (Arbeitstheilung) lange vor
Bronn und Milne Edwards ausspricht, und einzelnen anderen Stellen in der
„Metamorphose der Pflanze“ ist besonders nachfolgender, von Eckermann (Ge-
spräche mit Göthe, 1837, Vol. II, p. 65) verzeichneter Ausspruch Göthe’s
sehr merkwürdig: „Grosse Geheimnisse liegen noch verborgen, manches weiss
ich, von vielem habe ich eine Ahnung. Etwas will ich Ihnen vertrauen und mich
wunderlich dabei ausdrücken. Die Pflanze geht von Knoten zu Knoten, und
schliesst zuletzt ab mit der Blüthe und dem Samen. In der Thierwelt ist es
nicht anders. Die Raupe, der Bandwurm geht von Knoten zu Knoten und bildet
zuletzt einen Kopf; bei den höher stehenden Thieren und Menschen sind es die
Wirbelknochen, die sich anfügen und anfügen, und mit dem Kopfe abschliessen,
in welchem sich die Kräfte concentriren. Was so bei Einzelnen geschieht, ge-
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