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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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V. Verschiedene Auffassungen des thierischen Individuums.
von den einfachen Individuen der Tunicaten und von den Echinodermen.
Von den letzteren sollen nicht allein die fünfstrahligen Individuen, son-
dern sogar die einzelnen Strahlen derselben complicirte Individuen-
stöcke sein, durch ungeschlechtliche Knospenzeugung entstanden. Man
würde vielleicht hinter diesem dunkeln Gewirre von ineinander laufen-
den und vielfach widersprechenden Behauptungen dennoch den richtigen
tectologischen Grundgedanken entdecken können, dass alle höheren
Organismen verwickelte Aggregate von differenzirten Individuen ver-
schiedener Ordnung seien, wenn nicht andererseits ein wesentlicher Un-
terschied zwischen "Individuen" und "Organen" gemacht würde. Wäh-
rend aber bei den Wirbellosen die ganze Zusammensetzung des Kör-
pers auf durch Knospung entstandene Individuenstöcke zurückgeführt
wird, ist bei den Wirbelthieren davon nicht mehr die Rede. Reicherts
Anschauungen würden sich noch einigermaassen rechtfertigen lassen,
wenn er wenigstens so viel Consequenz besessen hätte, den Menschen
und die übrigen Wirbelthiere, so gut als die Wirbellosen, für com-
plicirte Individuenstöcke zu erklären. Nach seiner Auffassung müsste
schon der Rumpf des Wirbelthieres immer ein Individuenstock sein,
weil die einzelnen Abschnitte der Wirbelsäule durch ungeschlechtliche
Zeugung oder Knospenbildung entstehen. Hier wird aber der In-
dividuenstock plötzlich "Organstock" genannt, während die Wirbel-
losen in den Augen Reicherts keine "Organstöcke" zu besitzen
scheinen. Weiter müsste dann, wenn derselbe seine Anschauungen
consequent durchgeführt hätte, das Wirbelthier auch desshalb ein compli-
cirter Individuenstock sein, weil vier untergeordnete Individuenstöcke,
die Extremitäten, an ihm hervorsprossen, und an jeder dieser letzteren
müssten dann die fünf Zehen als die "eigentlichen" Individuen be-
trachtet werden. Mit welcher Inconsequenz und Willkühr Reichert
weiter verfährt, zeigt schon der Umstand, dass er die Fortpflanzung
durch Theilung gänzlich leugnet. "Hauptsächlich ist es die künst-
liche oder natürliche Ablösung von Individuen oder Individuen-Stöcken
eines meist durch Knospenbildung per intussusceptionem gebildeten
Hauptstockes gewesen, die zu der Theorie von der Zeugung durch
Theilung Veranlassung gegeben hat." Mit diesem Schlussworte der
seltsamen Schrift schliessen wir unser Urtheil über dieselbe. Einige
ihrer hervorragendsten Behauptungen sind schon von Victor Carus in
seiner Morphologie widerlegt; die übrigen widerlegen sich für den un-
befangenen Leser selbst.

Von weiteren Ansichten über die Bedeutung der thierischen In-
dividualität haben wir nun nur noch zwei sehr verschiedene Auffassungen
von V. Carus und von Huxley zu erwähnen. Victor Carus widmet
den "thierischen Individuen und ihren verschiedenen Formen" ein be-
sonderes Capitel, das sechste des zweiten Buches, in seinem "System

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V. Verschiedene Auffassungen des thierischen Individuums.
von den einfachen Individuen der Tunicaten und von den Echinodermen.
Von den letzteren sollen nicht allein die fünfstrahligen Individuen, son-
dern sogar die einzelnen Strahlen derselben complicirte Individuen-
stöcke sein, durch ungeschlechtliche Knospenzeugung entstanden. Man
würde vielleicht hinter diesem dunkeln Gewirre von ineinander laufen-
den und vielfach widersprechenden Behauptungen dennoch den richtigen
tectologischen Grundgedanken entdecken können, dass alle höheren
Organismen verwickelte Aggregate von differenzirten Individuen ver-
schiedener Ordnung seien, wenn nicht andererseits ein wesentlicher Un-
terschied zwischen „Individuen“ und „Organen“ gemacht würde. Wäh-
rend aber bei den Wirbellosen die ganze Zusammensetzung des Kör-
pers auf durch Knospung entstandene Individuenstöcke zurückgeführt
wird, ist bei den Wirbelthieren davon nicht mehr die Rede. Reicherts
Anschauungen würden sich noch einigermaassen rechtfertigen lassen,
wenn er wenigstens so viel Consequenz besessen hätte, den Menschen
und die übrigen Wirbelthiere, so gut als die Wirbellosen, für com-
plicirte Individuenstöcke zu erklären. Nach seiner Auffassung müsste
schon der Rumpf des Wirbelthieres immer ein Individuenstock sein,
weil die einzelnen Abschnitte der Wirbelsäule durch ungeschlechtliche
Zeugung oder Knospenbildung entstehen. Hier wird aber der In-
dividuenstock plötzlich „Organstock“ genannt, während die Wirbel-
losen in den Augen Reicherts keine „Organstöcke“ zu besitzen
scheinen. Weiter müsste dann, wenn derselbe seine Anschauungen
consequent durchgeführt hätte, das Wirbelthier auch desshalb ein compli-
cirter Individuenstock sein, weil vier untergeordnete Individuenstöcke,
die Extremitäten, an ihm hervorsprossen, und an jeder dieser letzteren
müssten dann die fünf Zehen als die „eigentlichen“ Individuen be-
trachtet werden. Mit welcher Inconsequenz und Willkühr Reichert
weiter verfährt, zeigt schon der Umstand, dass er die Fortpflanzung
durch Theilung gänzlich leugnet. „Hauptsächlich ist es die künst-
liche oder natürliche Ablösung von Individuen oder Individuen-Stöcken
eines meist durch Knospenbildung per intussusceptionem gebildeten
Hauptstockes gewesen, die zu der Theorie von der Zeugung durch
Theilung Veranlassung gegeben hat.“ Mit diesem Schlussworte der
seltsamen Schrift schliessen wir unser Urtheil über dieselbe. Einige
ihrer hervorragendsten Behauptungen sind schon von Victor Carus in
seiner Morphologie widerlegt; die übrigen widerlegen sich für den un-
befangenen Leser selbst.

Von weiteren Ansichten über die Bedeutung der thierischen In-
dividualität haben wir nun nur noch zwei sehr verschiedene Auffassungen
von V. Carus und von Huxley zu erwähnen. Victor Carus widmet
den „thierischen Individuen und ihren verschiedenen Formen“ ein be-
sonderes Capitel, das sechste des zweiten Buches, in seinem „System

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[259/0298] V. Verschiedene Auffassungen des thierischen Individuums. von den einfachen Individuen der Tunicaten und von den Echinodermen. Von den letzteren sollen nicht allein die fünfstrahligen Individuen, son- dern sogar die einzelnen Strahlen derselben complicirte Individuen- stöcke sein, durch ungeschlechtliche Knospenzeugung entstanden. Man würde vielleicht hinter diesem dunkeln Gewirre von ineinander laufen- den und vielfach widersprechenden Behauptungen dennoch den richtigen tectologischen Grundgedanken entdecken können, dass alle höheren Organismen verwickelte Aggregate von differenzirten Individuen ver- schiedener Ordnung seien, wenn nicht andererseits ein wesentlicher Un- terschied zwischen „Individuen“ und „Organen“ gemacht würde. Wäh- rend aber bei den Wirbellosen die ganze Zusammensetzung des Kör- pers auf durch Knospung entstandene Individuenstöcke zurückgeführt wird, ist bei den Wirbelthieren davon nicht mehr die Rede. Reicherts Anschauungen würden sich noch einigermaassen rechtfertigen lassen, wenn er wenigstens so viel Consequenz besessen hätte, den Menschen und die übrigen Wirbelthiere, so gut als die Wirbellosen, für com- plicirte Individuenstöcke zu erklären. Nach seiner Auffassung müsste schon der Rumpf des Wirbelthieres immer ein Individuenstock sein, weil die einzelnen Abschnitte der Wirbelsäule durch ungeschlechtliche Zeugung oder Knospenbildung entstehen. Hier wird aber der In- dividuenstock plötzlich „Organstock“ genannt, während die Wirbel- losen in den Augen Reicherts keine „Organstöcke“ zu besitzen scheinen. Weiter müsste dann, wenn derselbe seine Anschauungen consequent durchgeführt hätte, das Wirbelthier auch desshalb ein compli- cirter Individuenstock sein, weil vier untergeordnete Individuenstöcke, die Extremitäten, an ihm hervorsprossen, und an jeder dieser letzteren müssten dann die fünf Zehen als die „eigentlichen“ Individuen be- trachtet werden. Mit welcher Inconsequenz und Willkühr Reichert weiter verfährt, zeigt schon der Umstand, dass er die Fortpflanzung durch Theilung gänzlich leugnet. „Hauptsächlich ist es die künst- liche oder natürliche Ablösung von Individuen oder Individuen-Stöcken eines meist durch Knospenbildung per intussusceptionem gebildeten Hauptstockes gewesen, die zu der Theorie von der Zeugung durch Theilung Veranlassung gegeben hat.“ Mit diesem Schlussworte der seltsamen Schrift schliessen wir unser Urtheil über dieselbe. Einige ihrer hervorragendsten Behauptungen sind schon von Victor Carus in seiner Morphologie widerlegt; die übrigen widerlegen sich für den un- befangenen Leser selbst. Von weiteren Ansichten über die Bedeutung der thierischen In- dividualität haben wir nun nur noch zwei sehr verschiedene Auffassungen von V. Carus und von Huxley zu erwähnen. Victor Carus widmet den „thierischen Individuen und ihren verschiedenen Formen“ ein be- sonderes Capitel, das sechste des zweiten Buches, in seinem „System 17*

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/298>, abgerufen am 11.06.2024.