III. Verschiedene Auffassungen des pflanzlichen Individuums.
die einzelnen, oft unter bestimmten Winkeln gegen einander geneigten Glieder (Stengelglieder), in welche die einfache Axe bei vielen Pflan- zen abgetheilt ist u. s. w.
Diese letztere Consequenz ist denn auch von vielen Botanikern gezogen worden, und von den beiderlei Organen, aus denen sich der Spross bei den höheren Pflanzen allgemein zusammensetzt, von der Axe und dem Blatte, hat man Jedem die Individualität allein vindiciren wollen. Die Auffassung des Blattes, als des eigentlichen Pflanzen- Individuums, wurde namentlich durch die von Goethe begründete Lehre von der Pflanzen-Metamorphose begünstigt, welche die ver- schiedensten Pflanzen-Organe, Laubblätter, Blumenblätter, Staubgefässe, Fruchtblätter etc. als differenzirte, durch Arbeitstheilung entstandene Modificationen eines und desselben Grundorganes, des Blattes, nach- weist, und wonach die ganze Pflanze lediglich eine Composition aus differenzirten Blättern, gewissermaassen ein Blätterstock ist. Nach dem consequentesten Extrem dieser Auffassung erscheinen die Axengebilde bloss als Aggregate aus den vereinigten Basaltheilen der einzelnen Blätter. So ist nach Ernst Meyer das Stengelglied blos der untere Theil des Blattes.
Ebenso wie das Blatt ist von Anderen das Stengelglied unter dem Namen Phyton (Gaudichaud) als das eigentliche Individuum der Pflanze hingestellt worden, so von Agardh, Engelmann, Steinheil und Anderen. Dann würde der Spross als ein gegliederter Stock, eine Vielheit von Individuen (Stengelgliedern) erscheinen, die wie Stockwerke übereinander gebaut sind. Das Verhältniss des zu jedem Stengelgliede gehörigen Blattes oder Blattquirls hat man dabei so aufgefasst, dass das Blatt bloss der obere Theil des Stengel- gliedes sei.
Mag man nun mit den letzteren Botanikern die Sprosse (Gemmae) der Phanerogamen und der höheren Cryptogamen als Colonieen von Stengelgliedern (Phyten) oder mit den ersteren als Stöcke von Blättern ansehen, so wird man in beiden Fällen als die eigentlichen Individuen Theile der Pflanze betrachten, welche nach den vorhergehenden Auf- fassungen blos als Organe gelten konnten. Man hat sich in beiden Fällen vorzugsweise auf physiologische Gründe gestützt, auf die Fähigkeit einzelner Blätter oder einzelner Stengelglieder, unter be- stimmten Verhältnissen die Art fortzupflanzen und neue Sprosse aus sich zu erzeugen. Allein abgesehen von anderen Widersprüchen, zu denen diese physiologische Argumentation führt, kann dieselbe schon darum nicht für ausreichend gelten, weil in vielen Fällen schon ein- zelne kleine Theile eines Blattes oder eines Stengelgliedes genügen, um einem oder mehreren neuen Sprossen den Ursprung zu geben. So wachsen z. B. bei Bryophyllum aus jedem Einschnitte des Blatt-
III. Verschiedene Auffassungen des pflanzlichen Individuums.
die einzelnen, oft unter bestimmten Winkeln gegen einander geneigten Glieder (Stengelglieder), in welche die einfache Axe bei vielen Pflan- zen abgetheilt ist u. s. w.
Diese letztere Consequenz ist denn auch von vielen Botanikern gezogen worden, und von den beiderlei Organen, aus denen sich der Spross bei den höheren Pflanzen allgemein zusammensetzt, von der Axe und dem Blatte, hat man Jedem die Individualität allein vindiciren wollen. Die Auffassung des Blattes, als des eigentlichen Pflanzen- Individuums, wurde namentlich durch die von Goethe begründete Lehre von der Pflanzen-Metamorphose begünstigt, welche die ver- schiedensten Pflanzen-Organe, Laubblätter, Blumenblätter, Staubgefässe, Fruchtblätter etc. als differenzirte, durch Arbeitstheilung entstandene Modificationen eines und desselben Grundorganes, des Blattes, nach- weist, und wonach die ganze Pflanze lediglich eine Composition aus differenzirten Blättern, gewissermaassen ein Blätterstock ist. Nach dem consequentesten Extrem dieser Auffassung erscheinen die Axengebilde bloss als Aggregate aus den vereinigten Basaltheilen der einzelnen Blätter. So ist nach Ernst Meyer das Stengelglied blos der untere Theil des Blattes.
Ebenso wie das Blatt ist von Anderen das Stengelglied unter dem Namen Phyton (Gaudichaud) als das eigentliche Individuum der Pflanze hingestellt worden, so von Agardh, Engelmann, Steinheil und Anderen. Dann würde der Spross als ein gegliederter Stock, eine Vielheit von Individuen (Stengelgliedern) erscheinen, die wie Stockwerke übereinander gebaut sind. Das Verhältniss des zu jedem Stengelgliede gehörigen Blattes oder Blattquirls hat man dabei so aufgefasst, dass das Blatt bloss der obere Theil des Stengel- gliedes sei.
Mag man nun mit den letzteren Botanikern die Sprosse (Gemmae) der Phanerogamen und der höheren Cryptogamen als Colonieen von Stengelgliedern (Phyten) oder mit den ersteren als Stöcke von Blättern ansehen, so wird man in beiden Fällen als die eigentlichen Individuen Theile der Pflanze betrachten, welche nach den vorhergehenden Auf- fassungen blos als Organe gelten konnten. Man hat sich in beiden Fällen vorzugsweise auf physiologische Gründe gestützt, auf die Fähigkeit einzelner Blätter oder einzelner Stengelglieder, unter be- stimmten Verhältnissen die Art fortzupflanzen und neue Sprosse aus sich zu erzeugen. Allein abgesehen von anderen Widersprüchen, zu denen diese physiologische Argumentation führt, kann dieselbe schon darum nicht für ausreichend gelten, weil in vielen Fällen schon ein- zelne kleine Theile eines Blattes oder eines Stengelgliedes genügen, um einem oder mehreren neuen Sprossen den Ursprung zu geben. So wachsen z. B. bei Bryophyllum aus jedem Einschnitte des Blatt-
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III. Verschiedene Auffassungen des pflanzlichen Individuums.
die einzelnen, oft unter bestimmten Winkeln gegen einander geneigten
Glieder (Stengelglieder), in welche die einfache Axe bei vielen Pflan-
zen abgetheilt ist u. s. w.
Diese letztere Consequenz ist denn auch von vielen Botanikern
gezogen worden, und von den beiderlei Organen, aus denen sich der
Spross bei den höheren Pflanzen allgemein zusammensetzt, von der
Axe und dem Blatte, hat man Jedem die Individualität allein vindiciren
wollen. Die Auffassung des Blattes, als des eigentlichen Pflanzen-
Individuums, wurde namentlich durch die von Goethe begründete
Lehre von der Pflanzen-Metamorphose begünstigt, welche die ver-
schiedensten Pflanzen-Organe, Laubblätter, Blumenblätter, Staubgefässe,
Fruchtblätter etc. als differenzirte, durch Arbeitstheilung entstandene
Modificationen eines und desselben Grundorganes, des Blattes, nach-
weist, und wonach die ganze Pflanze lediglich eine Composition aus
differenzirten Blättern, gewissermaassen ein Blätterstock ist. Nach dem
consequentesten Extrem dieser Auffassung erscheinen die Axengebilde
bloss als Aggregate aus den vereinigten Basaltheilen der einzelnen
Blätter. So ist nach Ernst Meyer das Stengelglied blos der untere
Theil des Blattes.
Ebenso wie das Blatt ist von Anderen das Stengelglied unter
dem Namen Phyton (Gaudichaud) als das eigentliche Individuum
der Pflanze hingestellt worden, so von Agardh, Engelmann,
Steinheil und Anderen. Dann würde der Spross als ein gegliederter
Stock, eine Vielheit von Individuen (Stengelgliedern) erscheinen, die
wie Stockwerke übereinander gebaut sind. Das Verhältniss des zu
jedem Stengelgliede gehörigen Blattes oder Blattquirls hat man dabei
so aufgefasst, dass das Blatt bloss der obere Theil des Stengel-
gliedes sei.
Mag man nun mit den letzteren Botanikern die Sprosse (Gemmae)
der Phanerogamen und der höheren Cryptogamen als Colonieen von
Stengelgliedern (Phyten) oder mit den ersteren als Stöcke von Blättern
ansehen, so wird man in beiden Fällen als die eigentlichen Individuen
Theile der Pflanze betrachten, welche nach den vorhergehenden Auf-
fassungen blos als Organe gelten konnten. Man hat sich in beiden
Fällen vorzugsweise auf physiologische Gründe gestützt, auf die
Fähigkeit einzelner Blätter oder einzelner Stengelglieder, unter be-
stimmten Verhältnissen die Art fortzupflanzen und neue Sprosse aus
sich zu erzeugen. Allein abgesehen von anderen Widersprüchen, zu
denen diese physiologische Argumentation führt, kann dieselbe schon
darum nicht für ausreichend gelten, weil in vielen Fällen schon ein-
zelne kleine Theile eines Blattes oder eines Stengelgliedes genügen,
um einem oder mehreren neuen Sprossen den Ursprung zu geben.
So wachsen z. B. bei Bryophyllum aus jedem Einschnitte des Blatt-
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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/286>, abgerufen am 24.11.2024.
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