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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Begriff und Aufgabe der Tectologie.

Aus diesem Grunde haben die Botaniker schon seit langer Zeit
und mit Recht den Cormus oder Stock als eine zusammengesetzte
Pflanze, als ein Aggregat oder eine Colonie von Individuen betrachtet,
und dagegen als eigentlich individuelle Pflanze den Spross oder die
Knospe (Gemma), den Trieb, aus welchem jeder einzelne Zweig
hervorgeht, und welcher stets nur einer einzigen Axe entspricht. Diese
Auffassung ist uralt und findet sich schon bei Aristoteles und
Hippokrates angedeutet. Sie ist dann später von Linne, 1) Goethe,
Erasmus Darwin
(dem Grossvater des Reformators der Descendenz-
Theorie) und vielen Anderen mehr oder minder bestimmt ausgesprochen
und zuletzt namentlich von Alexander Braun 2) ausführlich begrün-
det worden. Für die Phanerogamen und die höheren Cryptogamen
lässt sich die Richtigkeit dieser Behauptung gar nicht verkennen, sobald
man ihre Vegetations- und Fortpflanzungs-Weise, die Art und Weise
des Aufbaues ihrer Stöcke, mit den ganz übereinstimmenden Verhält-
nissen der Stockbildung bei den Coelenteraten, und insbesondere den
Hydromedusen, vergleicht. Dass die Sprossen oder Knospen bei den
letzteren und bei den ersteren ganz dieselben Verhältnisse zu einander
und zum Ganzen zeigen, bedarf keines Beweises, und da bei den
Coelenteraten die Individuen-Natur der Sprosse, seien dieselben nun
polypoide (hydroide) oder medusoide Formen, von den deutschen
Naturforschern wenigstens, allgemein anerkannt ist, selbst bei den
Siphonophoren-Stöcken, wo sich einzelne Individuen durch weit gehende
Arbeitstheilung sehr weit von dem ausgeprägten Character der typischen
Individuen entfernen, so darf man, hierauf gestützt, den Sprossen der
Phanerogamen und der höheren Cryptogamen den morphologischen
Werth und Rang der thierischen Personen unbedingt zugestehen.

Schwierigkeiten entstehen für diese Auffassung erst bei den nie-
deren Cryptogamen, Flechten, Pilzen und Algen, wo die individuelle
Selbstständigkeit der Sprosse in vielen Fällen weder vom morphologi-
schen noch vom physiologischen Standpunkte aus sich nachweisen
lässt. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn der Spross, eine Seitenaxe,
nur als seitlicher Ausläufer einer einzigen Zelle auftritt, deren anderer
Theil der Hauptaxe als integrirender Bestandtheil angehört. Die
Durchführung des Grundsatzes, dass jeder seitlichen Axe der Rang
einer selbstständigen Individualität gebühre, scheint hier zu den selt-
samsten Widersprüchen zu führen. Auch könnte man dann daran
denken, ebenso jede kleinere seitlich von der Axe ausgehende Bil-
dung, Blätter, Haare etc. als Individuen zu erklären, ebenso auch

1) Linne, Philos. botan. § 132: "Gemmae totidem herbae."
2) Alexander Braun, Das Individuum der Pflanze in seinem Verhältniss
zur Species. Abhandl. der Berl. Akad. 1853.
Begriff und Aufgabe der Tectologie.

Aus diesem Grunde haben die Botaniker schon seit langer Zeit
und mit Recht den Cormus oder Stock als eine zusammengesetzte
Pflanze, als ein Aggregat oder eine Colonie von Individuen betrachtet,
und dagegen als eigentlich individuelle Pflanze den Spross oder die
Knospe (Gemma), den Trieb, aus welchem jeder einzelne Zweig
hervorgeht, und welcher stets nur einer einzigen Axe entspricht. Diese
Auffassung ist uralt und findet sich schon bei Aristoteles und
Hippokrates angedeutet. Sie ist dann später von Linné, 1) Goethe,
Erasmus Darwin
(dem Grossvater des Reformators der Descendenz-
Theorie) und vielen Anderen mehr oder minder bestimmt ausgesprochen
und zuletzt namentlich von Alexander Braun 2) ausführlich begrün-
det worden. Für die Phanerogamen und die höheren Cryptogamen
lässt sich die Richtigkeit dieser Behauptung gar nicht verkennen, sobald
man ihre Vegetations- und Fortpflanzungs-Weise, die Art und Weise
des Aufbaues ihrer Stöcke, mit den ganz übereinstimmenden Verhält-
nissen der Stockbildung bei den Coelenteraten, und insbesondere den
Hydromedusen, vergleicht. Dass die Sprossen oder Knospen bei den
letzteren und bei den ersteren ganz dieselben Verhältnisse zu einander
und zum Ganzen zeigen, bedarf keines Beweises, und da bei den
Coelenteraten die Individuen-Natur der Sprosse, seien dieselben nun
polypoide (hydroide) oder medusoide Formen, von den deutschen
Naturforschern wenigstens, allgemein anerkannt ist, selbst bei den
Siphonophoren-Stöcken, wo sich einzelne Individuen durch weit gehende
Arbeitstheilung sehr weit von dem ausgeprägten Character der typischen
Individuen entfernen, so darf man, hierauf gestützt, den Sprossen der
Phanerogamen und der höheren Cryptogamen den morphologischen
Werth und Rang der thierischen Personen unbedingt zugestehen.

Schwierigkeiten entstehen für diese Auffassung erst bei den nie-
deren Cryptogamen, Flechten, Pilzen und Algen, wo die individuelle
Selbstständigkeit der Sprosse in vielen Fällen weder vom morphologi-
schen noch vom physiologischen Standpunkte aus sich nachweisen
lässt. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn der Spross, eine Seitenaxe,
nur als seitlicher Ausläufer einer einzigen Zelle auftritt, deren anderer
Theil der Hauptaxe als integrirender Bestandtheil angehört. Die
Durchführung des Grundsatzes, dass jeder seitlichen Axe der Rang
einer selbstständigen Individualität gebühre, scheint hier zu den selt-
samsten Widersprüchen zu führen. Auch könnte man dann daran
denken, ebenso jede kleinere seitlich von der Axe ausgehende Bil-
dung, Blätter, Haare etc. als Individuen zu erklären, ebenso auch

1) Linné, Philos. botan. § 132: „Gemmae totidem herbae.“
2) Alexander Braun, Das Individuum der Pflanze in seinem Verhältniss
zur Species. Abhandl. der Berl. Akad. 1853.
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[246/0285] Begriff und Aufgabe der Tectologie. Aus diesem Grunde haben die Botaniker schon seit langer Zeit und mit Recht den Cormus oder Stock als eine zusammengesetzte Pflanze, als ein Aggregat oder eine Colonie von Individuen betrachtet, und dagegen als eigentlich individuelle Pflanze den Spross oder die Knospe (Gemma), den Trieb, aus welchem jeder einzelne Zweig hervorgeht, und welcher stets nur einer einzigen Axe entspricht. Diese Auffassung ist uralt und findet sich schon bei Aristoteles und Hippokrates angedeutet. Sie ist dann später von Linné, 1) Goethe, Erasmus Darwin (dem Grossvater des Reformators der Descendenz- Theorie) und vielen Anderen mehr oder minder bestimmt ausgesprochen und zuletzt namentlich von Alexander Braun 2) ausführlich begrün- det worden. Für die Phanerogamen und die höheren Cryptogamen lässt sich die Richtigkeit dieser Behauptung gar nicht verkennen, sobald man ihre Vegetations- und Fortpflanzungs-Weise, die Art und Weise des Aufbaues ihrer Stöcke, mit den ganz übereinstimmenden Verhält- nissen der Stockbildung bei den Coelenteraten, und insbesondere den Hydromedusen, vergleicht. Dass die Sprossen oder Knospen bei den letzteren und bei den ersteren ganz dieselben Verhältnisse zu einander und zum Ganzen zeigen, bedarf keines Beweises, und da bei den Coelenteraten die Individuen-Natur der Sprosse, seien dieselben nun polypoide (hydroide) oder medusoide Formen, von den deutschen Naturforschern wenigstens, allgemein anerkannt ist, selbst bei den Siphonophoren-Stöcken, wo sich einzelne Individuen durch weit gehende Arbeitstheilung sehr weit von dem ausgeprägten Character der typischen Individuen entfernen, so darf man, hierauf gestützt, den Sprossen der Phanerogamen und der höheren Cryptogamen den morphologischen Werth und Rang der thierischen Personen unbedingt zugestehen. Schwierigkeiten entstehen für diese Auffassung erst bei den nie- deren Cryptogamen, Flechten, Pilzen und Algen, wo die individuelle Selbstständigkeit der Sprosse in vielen Fällen weder vom morphologi- schen noch vom physiologischen Standpunkte aus sich nachweisen lässt. Dies ist z. B. dann der Fall, wenn der Spross, eine Seitenaxe, nur als seitlicher Ausläufer einer einzigen Zelle auftritt, deren anderer Theil der Hauptaxe als integrirender Bestandtheil angehört. Die Durchführung des Grundsatzes, dass jeder seitlichen Axe der Rang einer selbstständigen Individualität gebühre, scheint hier zu den selt- samsten Widersprüchen zu führen. Auch könnte man dann daran denken, ebenso jede kleinere seitlich von der Axe ausgehende Bil- dung, Blätter, Haare etc. als Individuen zu erklären, ebenso auch 1) Linné, Philos. botan. § 132: „Gemmae totidem herbae.“ 2) Alexander Braun, Das Individuum der Pflanze in seinem Verhältniss zur Species. Abhandl. der Berl. Akad. 1853.

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 246. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/285>, abgerufen am 24.11.2024.