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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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sondere, ganz verschiedene Wissenschaft angesehen, die mit der "eigent-
lichen" Zoologie oder Botanik Nichts zu thun hat. Die Entwickelungsge-
schichte der Individuen (die Ontogenie oder sogenannte Embryologie) ist
zwar neuerdings etwas mehr zu Ehren und Ansehen gekommen und wird
wohl von den meisten Botanikern und einigen Zoologen als ein integriren-
der und höchst wesentlicher Zweig der Biologie anerkannt. Die coordinirte
Phylogenie dagegen, die Entwickelungsgeschichte der Stämme, einer der
interessantesten und wichtigsten biologischen Wissenschaftszweige, ist den
meisten Zoologen und Botanikern, ebenso wie die Palaeontologie, welche
ihr das empirische Material liefert, entweder gänzlich unbekannt oder wird
doch als eine fremde, weitabliegende Wissenschaft, allenfalls als eine in-
teressante Curiosität betrachtet. Wenn in dieser Weise, und es ist dies
Thatsache, die "Versteinerungen," die unschätzbaren Reliquien der ausge-
storbenen Thiere und Pflanzen, von den meisten Zoologen und Botanikern
entweder gar nicht berücksichtigt, oder doch nicht richtig verstanden und
gewürdigt werden, so hat dies gerade so viel Sinn, wie wenn die ver-
gleichenden Sprachforscher sich ausschliesslich mit den lebenden Sprachen
beschäftigen, und das Studium der ausgestorbenen für ein ganz fremdartiges
Curiosum erklären wollten.

Wir sind gewiss weit entfernt davon, den grossen Vortheil zu verken-
nen, welchen die weit vorgeschrittene Arbeitstheilung den einzelnen Fächern
der Biologie gebracht hat. Ihr allein oder doch vorzüglich verdanken wir
die ausserordentliche Vermehrung des (freilich meist nicht ordentlich ver-
wertheten) empirischen Kenntniss-Materials, welche in den letzten Decennien
eine ganze Reihe von selbstständigen Wissenschafts-Zweigen hervorgerufen
hat. Und diese Arbeitstheilung wird und muss auch noch viel weiter gehen,
wenn die Riesen-Masse der noch nicht unserer Kenntniss unterworfenen
Thatsachen-Welt bewältigt werden soll. Allein wir können nicht umhin,
auch auf die grossen Nachtheile aufmerksam zu machen, welche mit jeder
solchen weitgehenden Arbeitstheilung verbunden sind, welche aber erst dann
die Wissenschaft erheblich beschädigen, wenn man sich, wie es jetzt meist
geschieht, ihrer Erkenntniss verschliesst. Hierher gehört vor Allen die
blinde Einseitigkeit, mit der sich die meisten Biologen auf ein ganz klei-
nes und beschränktes Wissenschaftsgebiet zurückziehen, ohne sich weiter
um das Ganze der Wissenschaft zu bekümmern. Dadurch geht aber nicht
nur der erhebende Blick für das wundervolle Ganze der Natur, sondern
auch die Fähigkeit für die richtige Erkenntniss des Einzelnen verloren. Es
reisst dadurch ferner eine Einseitigkeit in der Untersuchungsmethode und
Darstellungsweise jedes einzelnen kleinen Gebietes ein, welche ein gegen-
seitiges Verständniss erheblich erschwert und Verwirrung in die Literatur
bringt. Endlich aber verlieren durch diese ausschliessliche Versenkung in
das kleinste Detail die Naturforscher ganz den Blick für die Erkenntniss der
Naturgesetze, welche doch das höchste und letzte Ziel der Wissenschaft ist.

nen der einzelnen Arten zu erleichtern (!)." Von Physiologie und Entwicke-
lungsgeschichte, von Palaeontologie etc. ist in diesem, wie in den meisten übrigen
Handbüchern Nichts oder nur einzelne beiläufige Bemerkungen zu finden.

Thiere und Pflanzen.
sondere, ganz verschiedene Wissenschaft angesehen, die mit der „eigent-
lichen“ Zoologie oder Botanik Nichts zu thun hat. Die Entwickelungsge-
schichte der Individuen (die Ontogenie oder sogenannte Embryologie) ist
zwar neuerdings etwas mehr zu Ehren und Ansehen gekommen und wird
wohl von den meisten Botanikern und einigen Zoologen als ein integriren-
der und höchst wesentlicher Zweig der Biologie anerkannt. Die coordinirte
Phylogenie dagegen, die Entwickelungsgeschichte der Stämme, einer der
interessantesten und wichtigsten biologischen Wissenschaftszweige, ist den
meisten Zoologen und Botanikern, ebenso wie die Palaeontologie, welche
ihr das empirische Material liefert, entweder gänzlich unbekannt oder wird
doch als eine fremde, weitabliegende Wissenschaft, allenfalls als eine in-
teressante Curiosität betrachtet. Wenn in dieser Weise, und es ist dies
Thatsache, die „Versteinerungen,“ die unschätzbaren Reliquien der ausge-
storbenen Thiere und Pflanzen, von den meisten Zoologen und Botanikern
entweder gar nicht berücksichtigt, oder doch nicht richtig verstanden und
gewürdigt werden, so hat dies gerade so viel Sinn, wie wenn die ver-
gleichenden Sprachforscher sich ausschliesslich mit den lebenden Sprachen
beschäftigen, und das Studium der ausgestorbenen für ein ganz fremdartiges
Curiosum erklären wollten.

Wir sind gewiss weit entfernt davon, den grossen Vortheil zu verken-
nen, welchen die weit vorgeschrittene Arbeitstheilung den einzelnen Fächern
der Biologie gebracht hat. Ihr allein oder doch vorzüglich verdanken wir
die ausserordentliche Vermehrung des (freilich meist nicht ordentlich ver-
wertheten) empirischen Kenntniss-Materials, welche in den letzten Decennien
eine ganze Reihe von selbstständigen Wissenschafts-Zweigen hervorgerufen
hat. Und diese Arbeitstheilung wird und muss auch noch viel weiter gehen,
wenn die Riesen-Masse der noch nicht unserer Kenntniss unterworfenen
Thatsachen-Welt bewältigt werden soll. Allein wir können nicht umhin,
auch auf die grossen Nachtheile aufmerksam zu machen, welche mit jeder
solchen weitgehenden Arbeitstheilung verbunden sind, welche aber erst dann
die Wissenschaft erheblich beschädigen, wenn man sich, wie es jetzt meist
geschieht, ihrer Erkenntniss verschliesst. Hierher gehört vor Allen die
blinde Einseitigkeit, mit der sich die meisten Biologen auf ein ganz klei-
nes und beschränktes Wissenschaftsgebiet zurückziehen, ohne sich weiter
um das Ganze der Wissenschaft zu bekümmern. Dadurch geht aber nicht
nur der erhebende Blick für das wundervolle Ganze der Natur, sondern
auch die Fähigkeit für die richtige Erkenntniss des Einzelnen verloren. Es
reisst dadurch ferner eine Einseitigkeit in der Untersuchungsmethode und
Darstellungsweise jedes einzelnen kleinen Gebietes ein, welche ein gegen-
seitiges Verständniss erheblich erschwert und Verwirrung in die Literatur
bringt. Endlich aber verlieren durch diese ausschliessliche Versenkung in
das kleinste Detail die Naturforscher ganz den Blick für die Erkenntniss der
Naturgesetze, welche doch das höchste und letzte Ziel der Wissenschaft ist.

nen der einzelnen Arten zu erleichtern (!).“ Von Physiologie und Entwicke-
lungsgeschichte, von Palaeontologie etc. ist in diesem, wie in den meisten übrigen
Handbüchern Nichts oder nur einzelne beiläufige Bemerkungen zu finden.
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[236/0275] Thiere und Pflanzen. sondere, ganz verschiedene Wissenschaft angesehen, die mit der „eigent- lichen“ Zoologie oder Botanik Nichts zu thun hat. Die Entwickelungsge- schichte der Individuen (die Ontogenie oder sogenannte Embryologie) ist zwar neuerdings etwas mehr zu Ehren und Ansehen gekommen und wird wohl von den meisten Botanikern und einigen Zoologen als ein integriren- der und höchst wesentlicher Zweig der Biologie anerkannt. Die coordinirte Phylogenie dagegen, die Entwickelungsgeschichte der Stämme, einer der interessantesten und wichtigsten biologischen Wissenschaftszweige, ist den meisten Zoologen und Botanikern, ebenso wie die Palaeontologie, welche ihr das empirische Material liefert, entweder gänzlich unbekannt oder wird doch als eine fremde, weitabliegende Wissenschaft, allenfalls als eine in- teressante Curiosität betrachtet. Wenn in dieser Weise, und es ist dies Thatsache, die „Versteinerungen,“ die unschätzbaren Reliquien der ausge- storbenen Thiere und Pflanzen, von den meisten Zoologen und Botanikern entweder gar nicht berücksichtigt, oder doch nicht richtig verstanden und gewürdigt werden, so hat dies gerade so viel Sinn, wie wenn die ver- gleichenden Sprachforscher sich ausschliesslich mit den lebenden Sprachen beschäftigen, und das Studium der ausgestorbenen für ein ganz fremdartiges Curiosum erklären wollten. Wir sind gewiss weit entfernt davon, den grossen Vortheil zu verken- nen, welchen die weit vorgeschrittene Arbeitstheilung den einzelnen Fächern der Biologie gebracht hat. Ihr allein oder doch vorzüglich verdanken wir die ausserordentliche Vermehrung des (freilich meist nicht ordentlich ver- wertheten) empirischen Kenntniss-Materials, welche in den letzten Decennien eine ganze Reihe von selbstständigen Wissenschafts-Zweigen hervorgerufen hat. Und diese Arbeitstheilung wird und muss auch noch viel weiter gehen, wenn die Riesen-Masse der noch nicht unserer Kenntniss unterworfenen Thatsachen-Welt bewältigt werden soll. Allein wir können nicht umhin, auch auf die grossen Nachtheile aufmerksam zu machen, welche mit jeder solchen weitgehenden Arbeitstheilung verbunden sind, welche aber erst dann die Wissenschaft erheblich beschädigen, wenn man sich, wie es jetzt meist geschieht, ihrer Erkenntniss verschliesst. Hierher gehört vor Allen die blinde Einseitigkeit, mit der sich die meisten Biologen auf ein ganz klei- nes und beschränktes Wissenschaftsgebiet zurückziehen, ohne sich weiter um das Ganze der Wissenschaft zu bekümmern. Dadurch geht aber nicht nur der erhebende Blick für das wundervolle Ganze der Natur, sondern auch die Fähigkeit für die richtige Erkenntniss des Einzelnen verloren. Es reisst dadurch ferner eine Einseitigkeit in der Untersuchungsmethode und Darstellungsweise jedes einzelnen kleinen Gebietes ein, welche ein gegen- seitiges Verständniss erheblich erschwert und Verwirrung in die Literatur bringt. Endlich aber verlieren durch diese ausschliessliche Versenkung in das kleinste Detail die Naturforscher ganz den Blick für die Erkenntniss der Naturgesetze, welche doch das höchste und letzte Ziel der Wissenschaft ist. 1) 1) nen der einzelnen Arten zu erleichtern (!).“ Von Physiologie und Entwicke- lungsgeschichte, von Palaeontologie etc. ist in diesem, wie in den meisten übrigen Handbüchern Nichts oder nur einzelne beiläufige Bemerkungen zu finden.

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/275>, abgerufen am 24.11.2024.