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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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XII. Zoologie, Protistik, Botanik.
einstimmung zwischen den verschiedenen Biologen, da in der Regel
ein Jeder nur den kleinen abgerissenen Fetzen der Wissenschaft als
"eigentliche" Thier- oder Pflanzen-Kunde preist, in welchem er spe-
ciell bewandert ist. Da unter diesen Umständen gegenwärtig die
grösste Verwirrung und die allgemeinste Unklarheit über die wahre
Aufgabe und das eigentliche Ziel der Zoologie und Botanik herrscht,
so halten wir es keineswegs für überflüssig, hier nochmals ausdrück-
lich hervorzuheben, dass Zoologie die Gesammtwissenschaft von den
Thieren, Protistik oder Protistologie die Gesammtwissenschaft von
den Protisten, Botanik oder Phytologie die Gesammtwissenschaft von
den Pflanzen ist; und dass jede dieser drei Wissenschaften die voll-
ständige und allseitige Erkenntniss des ihr zugetheilten Organismen-
Reiches zur Aufgabe hat.

Jeder vernünftige und logisch denkende Mensch, der ausserhalb un-
serer Wissenschaft steht, wird die vorstehenden Sätze so selbstverständlich
und natürlich finden, dass es ihm sehr überflüssig erscheinen könnte, diesel-
ben hier doppelt und dreifach hervorzuheben. Jeder unbefangene Natur-
forscher aber, der mit der unendlichen Divergenz der allgemeinen biologi-
schen Ansichten vertraut ist, und der eine grössere Anzahl von Biologen
und von biologischen Schriften über die Aufgaben ihrer Wissenschaft be-
fragt hat, wird umgekehrt die ausdrückliche Betonung jener Sätze für eine
fundamentale Nothwendigkeit halten. In der Tnat braucht man bloss ein
paar Dutzend der gebräuchlichsten Lehr- und Hand-Bücher der Zoologie
und Botanik in die Hand zu nehmen und zu vergleichen, um sich zu über-
zeugen, dass die meisten Verfasser derselben thatsächlich nicht den ganzen
Umfang und vollen Inhalt, und also auch nicht das letzte Ziel und die
ganze Aufgabe der Wissenschaft, der sie ihr Leben gewidmet haben, ken-
nen. Die einen halten die Systematik, die anderen die Anatomie, einige
die Morphologie, andere die Physiologie für die "eigentliche" Zoologie oder
die "eigentliche" Botanik. Die allermeisten sogenannten Zoologen und Bo-
taniker beschäftigen sich vorwiegend oder ausschliesslich mit einzelnen Thei-
len der Morphologie, die einen (Systematiker) mehr mit den äusseren, die
anderen (Anatomen) mehr mit den inneren Formverhältnissen der Organis-
men; jeder von beiden behauptet aber, dass er die "eigentliche" Zoologie
oder Botanik treibe. 1) Die Physiologie wird von den Meisten als eine be-

1) Sehr viele sogenannte Zoologen und Botaniker sind auch jetzt noch nicht
über den Standpunkt des alten Boerhaave hinaus, der die Botanik mit fol-
genden Worten definirte: "Botanica est scientiae naturalis pars, cujus ope feli-
cissime et minimo negotio plantae cognoscuntur et in memoria retinentur." Das
in Deutschland am meisten verbreitete "Handbuch der Zoologie" von Wieg-
mann
stellt noch in der neuesten, von Troschel umgearbeiteten Auflage (1864)
der Zoologie folgende Aufgabe: "Sie hat die äusseren Formen der Thiere (!),
das Wichtigste (!) ihres inneren Baues, ihre Lebensweise und Heimath kennen
zu lehren; sie hat die in der Gesammtheit ihres Wesens übereinstimmenden
Thierformen in Arten, Gattungen, Familien, Ordnungen und Klassen zusammen-
zustellen, um so das Vielen Gemeinsame leichter hervorzuheben, und das Erken-

XII. Zoologie, Protistik, Botanik.
einstimmung zwischen den verschiedenen Biologen, da in der Regel
ein Jeder nur den kleinen abgerissenen Fetzen der Wissenschaft als
„eigentliche“ Thier- oder Pflanzen-Kunde preist, in welchem er spe-
ciell bewandert ist. Da unter diesen Umständen gegenwärtig die
grösste Verwirrung und die allgemeinste Unklarheit über die wahre
Aufgabe und das eigentliche Ziel der Zoologie und Botanik herrscht,
so halten wir es keineswegs für überflüssig, hier nochmals ausdrück-
lich hervorzuheben, dass Zoologie die Gesammtwissenschaft von den
Thieren, Protistik oder Protistologie die Gesammtwissenschaft von
den Protisten, Botanik oder Phytologie die Gesammtwissenschaft von
den Pflanzen ist; und dass jede dieser drei Wissenschaften die voll-
ständige und allseitige Erkenntniss des ihr zugetheilten Organismen-
Reiches zur Aufgabe hat.

Jeder vernünftige und logisch denkende Mensch, der ausserhalb un-
serer Wissenschaft steht, wird die vorstehenden Sätze so selbstverständlich
und natürlich finden, dass es ihm sehr überflüssig erscheinen könnte, diesel-
ben hier doppelt und dreifach hervorzuheben. Jeder unbefangene Natur-
forscher aber, der mit der unendlichen Divergenz der allgemeinen biologi-
schen Ansichten vertraut ist, und der eine grössere Anzahl von Biologen
und von biologischen Schriften über die Aufgaben ihrer Wissenschaft be-
fragt hat, wird umgekehrt die ausdrückliche Betonung jener Sätze für eine
fundamentale Nothwendigkeit halten. In der Tnat braucht man bloss ein
paar Dutzend der gebräuchlichsten Lehr- und Hand-Bücher der Zoologie
und Botanik in die Hand zu nehmen und zu vergleichen, um sich zu über-
zeugen, dass die meisten Verfasser derselben thatsächlich nicht den ganzen
Umfang und vollen Inhalt, und also auch nicht das letzte Ziel und die
ganze Aufgabe der Wissenschaft, der sie ihr Leben gewidmet haben, ken-
nen. Die einen halten die Systematik, die anderen die Anatomie, einige
die Morphologie, andere die Physiologie für die „eigentliche“ Zoologie oder
die „eigentliche“ Botanik. Die allermeisten sogenannten Zoologen und Bo-
taniker beschäftigen sich vorwiegend oder ausschliesslich mit einzelnen Thei-
len der Morphologie, die einen (Systematiker) mehr mit den äusseren, die
anderen (Anatomen) mehr mit den inneren Formverhältnissen der Organis-
men; jeder von beiden behauptet aber, dass er die „eigentliche“ Zoologie
oder Botanik treibe. 1) Die Physiologie wird von den Meisten als eine be-

1) Sehr viele sogenannte Zoologen und Botaniker sind auch jetzt noch nicht
über den Standpunkt des alten Boerhaave hinaus, der die Botanik mit fol-
genden Worten definirte: „Botanica est scientiae naturalis pars, cujus ope feli-
cissime et minimo negotio plantae cognoscuntur et in memoria retinentur.“ Das
in Deutschland am meisten verbreitete „Handbuch der Zoologie“ von Wieg-
mann
stellt noch in der neuesten, von Troschel umgearbeiteten Auflage (1864)
der Zoologie folgende Aufgabe: „Sie hat die äusseren Formen der Thiere (!),
das Wichtigste (!) ihres inneren Baues, ihre Lebensweise und Heimath kennen
zu lehren; sie hat die in der Gesammtheit ihres Wesens übereinstimmenden
Thierformen in Arten, Gattungen, Familien, Ordnungen und Klassen zusammen-
zustellen, um so das Vielen Gemeinsame leichter hervorzuheben, und das Erken-
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[235/0274] XII. Zoologie, Protistik, Botanik. einstimmung zwischen den verschiedenen Biologen, da in der Regel ein Jeder nur den kleinen abgerissenen Fetzen der Wissenschaft als „eigentliche“ Thier- oder Pflanzen-Kunde preist, in welchem er spe- ciell bewandert ist. Da unter diesen Umständen gegenwärtig die grösste Verwirrung und die allgemeinste Unklarheit über die wahre Aufgabe und das eigentliche Ziel der Zoologie und Botanik herrscht, so halten wir es keineswegs für überflüssig, hier nochmals ausdrück- lich hervorzuheben, dass Zoologie die Gesammtwissenschaft von den Thieren, Protistik oder Protistologie die Gesammtwissenschaft von den Protisten, Botanik oder Phytologie die Gesammtwissenschaft von den Pflanzen ist; und dass jede dieser drei Wissenschaften die voll- ständige und allseitige Erkenntniss des ihr zugetheilten Organismen- Reiches zur Aufgabe hat. Jeder vernünftige und logisch denkende Mensch, der ausserhalb un- serer Wissenschaft steht, wird die vorstehenden Sätze so selbstverständlich und natürlich finden, dass es ihm sehr überflüssig erscheinen könnte, diesel- ben hier doppelt und dreifach hervorzuheben. Jeder unbefangene Natur- forscher aber, der mit der unendlichen Divergenz der allgemeinen biologi- schen Ansichten vertraut ist, und der eine grössere Anzahl von Biologen und von biologischen Schriften über die Aufgaben ihrer Wissenschaft be- fragt hat, wird umgekehrt die ausdrückliche Betonung jener Sätze für eine fundamentale Nothwendigkeit halten. In der Tnat braucht man bloss ein paar Dutzend der gebräuchlichsten Lehr- und Hand-Bücher der Zoologie und Botanik in die Hand zu nehmen und zu vergleichen, um sich zu über- zeugen, dass die meisten Verfasser derselben thatsächlich nicht den ganzen Umfang und vollen Inhalt, und also auch nicht das letzte Ziel und die ganze Aufgabe der Wissenschaft, der sie ihr Leben gewidmet haben, ken- nen. Die einen halten die Systematik, die anderen die Anatomie, einige die Morphologie, andere die Physiologie für die „eigentliche“ Zoologie oder die „eigentliche“ Botanik. Die allermeisten sogenannten Zoologen und Bo- taniker beschäftigen sich vorwiegend oder ausschliesslich mit einzelnen Thei- len der Morphologie, die einen (Systematiker) mehr mit den äusseren, die anderen (Anatomen) mehr mit den inneren Formverhältnissen der Organis- men; jeder von beiden behauptet aber, dass er die „eigentliche“ Zoologie oder Botanik treibe. 1) Die Physiologie wird von den Meisten als eine be- 1) Sehr viele sogenannte Zoologen und Botaniker sind auch jetzt noch nicht über den Standpunkt des alten Boerhaave hinaus, der die Botanik mit fol- genden Worten definirte: „Botanica est scientiae naturalis pars, cujus ope feli- cissime et minimo negotio plantae cognoscuntur et in memoria retinentur.“ Das in Deutschland am meisten verbreitete „Handbuch der Zoologie“ von Wieg- mann stellt noch in der neuesten, von Troschel umgearbeiteten Auflage (1864) der Zoologie folgende Aufgabe: „Sie hat die äusseren Formen der Thiere (!), das Wichtigste (!) ihres inneren Baues, ihre Lebensweise und Heimath kennen zu lehren; sie hat die in der Gesammtheit ihres Wesens übereinstimmenden Thierformen in Arten, Gattungen, Familien, Ordnungen und Klassen zusammen- zustellen, um so das Vielen Gemeinsame leichter hervorzuheben, und das Erken-

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/274>, abgerufen am 24.11.2024.