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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Thiere und Pflanzen.

Kein so scharfes und vollständiges Bild vermögen wir von den
positiven Characteren der Protisten zu entwerfen. Es ist mehr
eine Summe von negativen Eigenthümlichkeiten, welche die verschie-
denen Protisten-Stämme zu einem Reiche vereinigt. Dies liegt theils
an der unvollkommenen Entwickelungsstufe, welche die Protisten
überhaupt erreichen, und wodurch sie den niedersten Entwickelungs-
stufen des Thierreichs sowohl als des Pflanzenreichs zum Theil sehr
nahe stehen; theils an der wirklichen Mischung von thierischen und
pflanzlichen Characteren, welche viele Protisten in so auffallender
Weise in sich vereinigen, dass es ganz unmöglich ist, sie entweder
dem Thierreiche oder dem Pflanzenreiche zuzugesellen, ohne dessen
Differential-Character wesentlich zu beeinträchtigen. Zum grossen
Theil allerdings liegt die Unmöglichkeit, jetzt schon ein vollständiges
Characterbild der Protisten zu entwerfen, an unseren noch ausser-
ordentlich mangelhaften Kenntnissen, besonders ihrer Ernährungs-
thätigkeit und ihres Stoffwechsels. Indessen ist es immerhin möglich,
wenigstens einige gemeinsame Züge aller Protisten in ein skizzen-
haftes Characterbild zusammenzufassen:

III. Protistencharacter:

Die allgemeine bleibende Selbstständigkeit der Individuen erster Ord-
nung (Plastiden), welche sehr häufig einzeln, oder locker zu Plastiden-
familien verbunden, allein das physiologische Individuum repräsentiren; In-
dividuen höherer Ordnung (Organe, Personen etc) entweder gar nicht oder
nur höchst unvollkommen entwickelt; ebenso die Plastidenstöcke, wenn
vorhanden, meist sehr unvollständig ausgebildet, und nicht differenzirt
(keine sogenannten "Gewebe"). Allgemeines Vorherrschen der niedrigsten
Grundformen, entweder gar keine bestimmte Formen oder höchst einfache
und regelmässige, oft stereometrisch reine und krystallähnliche Formen
(Kugel, Cylinder, reguläre Polyeder, krystallähnliche Prismen etc.) Die Le-
bensthätigkeit grösstentheils unbekannt; der Stoffwechsel, wie es scheint, bei
einigen Protisten mehr dem der Pflanzen, bei anderen mehr dem der Thiere
sich nähernd, bei noch anderen endlich zwischen Beiden die Mitte haltend.

Wenn man die verschiedenen Protisten-Stämme mit den Stämmen
einerseits des Thierreichs, andererseits des Pflanzenreichs vergleicht,
so stellt sich allerdings bei den einen eine nähere Beziehung zu
jenem, bei den anderen zu diesem heraus, und wenn man die übliche
Zweitheilung der Organismen in Thiere und Pflanzen beibehalten
will, so muss man jedenfalls das Protisten-Reich in zwei Theile
spalten und die eine Hälfte jenem, die andere diesem anreihen. Die
Reihe der pflanzenartigen Protisten würde durch die Myxomyceten,
Diatomeen und Flagellaten, die Reihe der thierartigen Protisten durch
die Spongien, Noctiluken und Rhizopoden gebildet. Aber bei den
Protoplasten und den Moneren würden wir vollständig in Zweifel sein,

Thiere und Pflanzen.

Kein so scharfes und vollständiges Bild vermögen wir von den
positiven Characteren der Protisten zu entwerfen. Es ist mehr
eine Summe von negativen Eigenthümlichkeiten, welche die verschie-
denen Protisten-Stämme zu einem Reiche vereinigt. Dies liegt theils
an der unvollkommenen Entwickelungsstufe, welche die Protisten
überhaupt erreichen, und wodurch sie den niedersten Entwickelungs-
stufen des Thierreichs sowohl als des Pflanzenreichs zum Theil sehr
nahe stehen; theils an der wirklichen Mischung von thierischen und
pflanzlichen Characteren, welche viele Protisten in so auffallender
Weise in sich vereinigen, dass es ganz unmöglich ist, sie entweder
dem Thierreiche oder dem Pflanzenreiche zuzugesellen, ohne dessen
Differential-Character wesentlich zu beeinträchtigen. Zum grossen
Theil allerdings liegt die Unmöglichkeit, jetzt schon ein vollständiges
Characterbild der Protisten zu entwerfen, an unseren noch ausser-
ordentlich mangelhaften Kenntnissen, besonders ihrer Ernährungs-
thätigkeit und ihres Stoffwechsels. Indessen ist es immerhin möglich,
wenigstens einige gemeinsame Züge aller Protisten in ein skizzen-
haftes Characterbild zusammenzufassen:

III. Protistencharacter:

Die allgemeine bleibende Selbstständigkeit der Individuen erster Ord-
nung (Plastiden), welche sehr häufig einzeln, oder locker zu Plastiden-
familien verbunden, allein das physiologische Individuum repräsentiren; In-
dividuen höherer Ordnung (Organe, Personen etc) entweder gar nicht oder
nur höchst unvollkommen entwickelt; ebenso die Plastidenstöcke, wenn
vorhanden, meist sehr unvollständig ausgebildet, und nicht differenzirt
(keine sogenannten „Gewebe“). Allgemeines Vorherrschen der niedrigsten
Grundformen, entweder gar keine bestimmte Formen oder höchst einfache
und regelmässige, oft stereometrisch reine und krystallähnliche Formen
(Kugel, Cylinder, reguläre Polyeder, krystallähnliche Prismen etc.) Die Le-
bensthätigkeit grösstentheils unbekannt; der Stoffwechsel, wie es scheint, bei
einigen Protisten mehr dem der Pflanzen, bei anderen mehr dem der Thiere
sich nähernd, bei noch anderen endlich zwischen Beiden die Mitte haltend.

Wenn man die verschiedenen Protisten-Stämme mit den Stämmen
einerseits des Thierreichs, andererseits des Pflanzenreichs vergleicht,
so stellt sich allerdings bei den einen eine nähere Beziehung zu
jenem, bei den anderen zu diesem heraus, und wenn man die übliche
Zweitheilung der Organismen in Thiere und Pflanzen beibehalten
will, so muss man jedenfalls das Protisten-Reich in zwei Theile
spalten und die eine Hälfte jenem, die andere diesem anreihen. Die
Reihe der pflanzenartigen Protisten würde durch die Myxomyceten,
Diatomeen und Flagellaten, die Reihe der thierartigen Protisten durch
die Spongien, Noctiluken und Rhizopoden gebildet. Aber bei den
Protoplasten und den Moneren würden wir vollständig in Zweifel sein,

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[228/0267] Thiere und Pflanzen. Kein so scharfes und vollständiges Bild vermögen wir von den positiven Characteren der Protisten zu entwerfen. Es ist mehr eine Summe von negativen Eigenthümlichkeiten, welche die verschie- denen Protisten-Stämme zu einem Reiche vereinigt. Dies liegt theils an der unvollkommenen Entwickelungsstufe, welche die Protisten überhaupt erreichen, und wodurch sie den niedersten Entwickelungs- stufen des Thierreichs sowohl als des Pflanzenreichs zum Theil sehr nahe stehen; theils an der wirklichen Mischung von thierischen und pflanzlichen Characteren, welche viele Protisten in so auffallender Weise in sich vereinigen, dass es ganz unmöglich ist, sie entweder dem Thierreiche oder dem Pflanzenreiche zuzugesellen, ohne dessen Differential-Character wesentlich zu beeinträchtigen. Zum grossen Theil allerdings liegt die Unmöglichkeit, jetzt schon ein vollständiges Characterbild der Protisten zu entwerfen, an unseren noch ausser- ordentlich mangelhaften Kenntnissen, besonders ihrer Ernährungs- thätigkeit und ihres Stoffwechsels. Indessen ist es immerhin möglich, wenigstens einige gemeinsame Züge aller Protisten in ein skizzen- haftes Characterbild zusammenzufassen: III. Protistencharacter: Die allgemeine bleibende Selbstständigkeit der Individuen erster Ord- nung (Plastiden), welche sehr häufig einzeln, oder locker zu Plastiden- familien verbunden, allein das physiologische Individuum repräsentiren; In- dividuen höherer Ordnung (Organe, Personen etc) entweder gar nicht oder nur höchst unvollkommen entwickelt; ebenso die Plastidenstöcke, wenn vorhanden, meist sehr unvollständig ausgebildet, und nicht differenzirt (keine sogenannten „Gewebe“). Allgemeines Vorherrschen der niedrigsten Grundformen, entweder gar keine bestimmte Formen oder höchst einfache und regelmässige, oft stereometrisch reine und krystallähnliche Formen (Kugel, Cylinder, reguläre Polyeder, krystallähnliche Prismen etc.) Die Le- bensthätigkeit grösstentheils unbekannt; der Stoffwechsel, wie es scheint, bei einigen Protisten mehr dem der Pflanzen, bei anderen mehr dem der Thiere sich nähernd, bei noch anderen endlich zwischen Beiden die Mitte haltend. Wenn man die verschiedenen Protisten-Stämme mit den Stämmen einerseits des Thierreichs, andererseits des Pflanzenreichs vergleicht, so stellt sich allerdings bei den einen eine nähere Beziehung zu jenem, bei den anderen zu diesem heraus, und wenn man die übliche Zweitheilung der Organismen in Thiere und Pflanzen beibehalten will, so muss man jedenfalls das Protisten-Reich in zwei Theile spalten und die eine Hälfte jenem, die andere diesem anreihen. Die Reihe der pflanzenartigen Protisten würde durch die Myxomyceten, Diatomeen und Flagellaten, die Reihe der thierartigen Protisten durch die Spongien, Noctiluken und Rhizopoden gebildet. Aber bei den Protoplasten und den Moneren würden wir vollständig in Zweifel sein,

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/267>, abgerufen am 11.06.2024.