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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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Thiere und Pflanzen.
nun hier diese Anwendung versuchen, und wenn wir dadurch auf einen
neuen und fruchtbaren Standpunkt in jener Frage hingeleitet werden,
so werden wir hierin zugleich einen neuen und werthvollen Beweis
für die Wahrheit und die Unentbehrlichkeit der Abstammungslehre
finden dürfen. In der That werden wir alsbald gewahr werden, dass
in dieser, wie in allen allgemeinen biologischen Fragen, nur der rothe
Faden der genealogischen Verwandtschafts-Lehre es ist, der uns gleich
dem leitenden Ariadne-Faden durch die labyrinthische Verwickelung
der organischen Form-Verhältnisse zu ihrem wissenschaftlichen Ver-
ständnisse emporzuführen vermag.

Die uralte Eintheilung der Organismen in die beiden Hauptgruppen
oder "Reiche" der Pflanzen und Thiere ist, gleich der Unterscheidung
mehrerer Hauptgruppen des Thierreichs (der Vögel, Fische etc.) nicht auf
dem strengen Wege der wissenschaftlichen Untersuchung, Scheidung und
Wägung ihrer verschiedenen Eigenschaften erzielt worden, sondern hervor-
gegangen aus der ersten oberflächlichsten und allgemeinsten Unterscheidung
der lebendigen Naturkörper, welche schon der einfache Naturmensch aus-
übte, sobald er überhaupt das Bedürfniss fühlte, die wesentlichsten und
hervorragendsten Unterschiede der ihn umgebenden Naturkörper mit einem
Namen zu bezeichnen. Daher findet sich auch die Eintheilung der Lebe-
wesen in Thiere und Pflanzen, und bestimmte Worte zur Bezeichnung die-
ser beiden Reiche, bei fast allen Naturvölkern, die überhaupt über die
niedrigste Stufe thierischer Rohheit sich erhoben haben. Erst sehr viel
später finden wir Versuche einer wissenschaftlichen Bestimmung dieser bei-
den Begriffe vor. Man schrieb nun den Thieren, welche sich gleich dem
Menschen bewegen und empfinden, wie diesem, eine Seele zu, während
man den Pflanzen, die der Empfindung und Bewegung zu entbehren schei-
nen, eine Seele absprach. Doch ist es sehr bemerkenswerth, dass schon
der grösste Naturforscher des Alterthums, Aristoteles, in der scharfen
Unterscheidung der beseelten. Thiere und unbeseelten Pflanzen unübersteig-
liche Schwierigkeiten fand1). Wie in vielen anderen Erkenntnissen, so war
auch in dieser der grosse griechische Naturphilosoph der nachfolgenden
Welt um mehr als zwei Jahrtausende voraus. Linne, den wir als den
formellen Begründer der organischen Systematik feiern, vermochte sich trotz
seiner umfassenden systematischen Kenntnisse nicht auf die Höhe jener
Aristotelischen Betrachtung zu erheben, hielt vielmehr die Unterschiede
zwischen den beseelten Thieren und den seelenlosen Pflanzen für ebenso

1) "Die Natur geht allmählig von den Unbeseelten zu den Thieren über,
durch solche, die zwar leben, aber nicht Thiere sind, so dass es scheint, dass
das Eine sich vom Anderen dadurch, dass sie sich einander nahe stehen, ganz
wenig unterscheidet." Aristoteles, de partibus anim. IV, 5. 681 a. "So stei-
gert sich jenes Princip des Lebens in unmerklichen Stufen bis zur Thierseele
hinauf, so dass man in dem Verfolg jener Reihen das Nächstverwandte und das
in der Mitte Liegende kaum zu unterscheiden vermag." Aristoteles, historia
anim. VIII, 1. 588 b 10. Vergl. J, B. Meyer: Aristoteles Thierkunde p. 172.

Thiere und Pflanzen.
nun hier diese Anwendung versuchen, und wenn wir dadurch auf einen
neuen und fruchtbaren Standpunkt in jener Frage hingeleitet werden,
so werden wir hierin zugleich einen neuen und werthvollen Beweis
für die Wahrheit und die Unentbehrlichkeit der Abstammungslehre
finden dürfen. In der That werden wir alsbald gewahr werden, dass
in dieser, wie in allen allgemeinen biologischen Fragen, nur der rothe
Faden der genealogischen Verwandtschafts-Lehre es ist, der uns gleich
dem leitenden Ariadne-Faden durch die labyrinthische Verwickelung
der organischen Form-Verhältnisse zu ihrem wissenschaftlichen Ver-
ständnisse emporzuführen vermag.

Die uralte Eintheilung der Organismen in die beiden Hauptgruppen
oder „Reiche“ der Pflanzen und Thiere ist, gleich der Unterscheidung
mehrerer Hauptgruppen des Thierreichs (der Vögel, Fische etc.) nicht auf
dem strengen Wege der wissenschaftlichen Untersuchung, Scheidung und
Wägung ihrer verschiedenen Eigenschaften erzielt worden, sondern hervor-
gegangen aus der ersten oberflächlichsten und allgemeinsten Unterscheidung
der lebendigen Naturkörper, welche schon der einfache Naturmensch aus-
übte, sobald er überhaupt das Bedürfniss fühlte, die wesentlichsten und
hervorragendsten Unterschiede der ihn umgebenden Naturkörper mit einem
Namen zu bezeichnen. Daher findet sich auch die Eintheilung der Lebe-
wesen in Thiere und Pflanzen, und bestimmte Worte zur Bezeichnung die-
ser beiden Reiche, bei fast allen Naturvölkern, die überhaupt über die
niedrigste Stufe thierischer Rohheit sich erhoben haben. Erst sehr viel
später finden wir Versuche einer wissenschaftlichen Bestimmung dieser bei-
den Begriffe vor. Man schrieb nun den Thieren, welche sich gleich dem
Menschen bewegen und empfinden, wie diesem, eine Seele zu, während
man den Pflanzen, die der Empfindung und Bewegung zu entbehren schei-
nen, eine Seele absprach. Doch ist es sehr bemerkenswerth, dass schon
der grösste Naturforscher des Alterthums, Aristoteles, in der scharfen
Unterscheidung der beseelten. Thiere und unbeseelten Pflanzen unübersteig-
liche Schwierigkeiten fand1). Wie in vielen anderen Erkenntnissen, so war
auch in dieser der grosse griechische Naturphilosoph der nachfolgenden
Welt um mehr als zwei Jahrtausende voraus. Linné, den wir als den
formellen Begründer der organischen Systematik feiern, vermochte sich trotz
seiner umfassenden systematischen Kenntnisse nicht auf die Höhe jener
Aristotelischen Betrachtung zu erheben, hielt vielmehr die Unterschiede
zwischen den beseelten Thieren und den seelenlosen Pflanzen für ebenso

1) „Die Natur geht allmählig von den Unbeseelten zu den Thieren über,
durch solche, die zwar leben, aber nicht Thiere sind, so dass es scheint, dass
das Eine sich vom Anderen dadurch, dass sie sich einander nahe stehen, ganz
wenig unterscheidet.“ Aristoteles, de partibus anim. IV, 5. 681 a. „So stei-
gert sich jenes Princip des Lebens in unmerklichen Stufen bis zur Thierseele
hinauf, so dass man in dem Verfolg jener Reihen das Nächstverwandte und das
in der Mitte Liegende kaum zu unterscheiden vermag.“ Aristoteles, historia
anim. VIII, 1. 588 b 10. Vergl. J, B. Meyer: Aristoteles Thierkunde p. 172.
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[192/0231] Thiere und Pflanzen. nun hier diese Anwendung versuchen, und wenn wir dadurch auf einen neuen und fruchtbaren Standpunkt in jener Frage hingeleitet werden, so werden wir hierin zugleich einen neuen und werthvollen Beweis für die Wahrheit und die Unentbehrlichkeit der Abstammungslehre finden dürfen. In der That werden wir alsbald gewahr werden, dass in dieser, wie in allen allgemeinen biologischen Fragen, nur der rothe Faden der genealogischen Verwandtschafts-Lehre es ist, der uns gleich dem leitenden Ariadne-Faden durch die labyrinthische Verwickelung der organischen Form-Verhältnisse zu ihrem wissenschaftlichen Ver- ständnisse emporzuführen vermag. Die uralte Eintheilung der Organismen in die beiden Hauptgruppen oder „Reiche“ der Pflanzen und Thiere ist, gleich der Unterscheidung mehrerer Hauptgruppen des Thierreichs (der Vögel, Fische etc.) nicht auf dem strengen Wege der wissenschaftlichen Untersuchung, Scheidung und Wägung ihrer verschiedenen Eigenschaften erzielt worden, sondern hervor- gegangen aus der ersten oberflächlichsten und allgemeinsten Unterscheidung der lebendigen Naturkörper, welche schon der einfache Naturmensch aus- übte, sobald er überhaupt das Bedürfniss fühlte, die wesentlichsten und hervorragendsten Unterschiede der ihn umgebenden Naturkörper mit einem Namen zu bezeichnen. Daher findet sich auch die Eintheilung der Lebe- wesen in Thiere und Pflanzen, und bestimmte Worte zur Bezeichnung die- ser beiden Reiche, bei fast allen Naturvölkern, die überhaupt über die niedrigste Stufe thierischer Rohheit sich erhoben haben. Erst sehr viel später finden wir Versuche einer wissenschaftlichen Bestimmung dieser bei- den Begriffe vor. Man schrieb nun den Thieren, welche sich gleich dem Menschen bewegen und empfinden, wie diesem, eine Seele zu, während man den Pflanzen, die der Empfindung und Bewegung zu entbehren schei- nen, eine Seele absprach. Doch ist es sehr bemerkenswerth, dass schon der grösste Naturforscher des Alterthums, Aristoteles, in der scharfen Unterscheidung der beseelten. Thiere und unbeseelten Pflanzen unübersteig- liche Schwierigkeiten fand 1). Wie in vielen anderen Erkenntnissen, so war auch in dieser der grosse griechische Naturphilosoph der nachfolgenden Welt um mehr als zwei Jahrtausende voraus. Linné, den wir als den formellen Begründer der organischen Systematik feiern, vermochte sich trotz seiner umfassenden systematischen Kenntnisse nicht auf die Höhe jener Aristotelischen Betrachtung zu erheben, hielt vielmehr die Unterschiede zwischen den beseelten Thieren und den seelenlosen Pflanzen für ebenso 1) „Die Natur geht allmählig von den Unbeseelten zu den Thieren über, durch solche, die zwar leben, aber nicht Thiere sind, so dass es scheint, dass das Eine sich vom Anderen dadurch, dass sie sich einander nahe stehen, ganz wenig unterscheidet.“ Aristoteles, de partibus anim. IV, 5. 681 a. „So stei- gert sich jenes Princip des Lebens in unmerklichen Stufen bis zur Thierseele hinauf, so dass man in dem Verfolg jener Reihen das Nächstverwandte und das in der Mitte Liegende kaum zu unterscheiden vermag.“ Aristoteles, historia anim. VIII, 1. 588 b 10. Vergl. J, B. Meyer: Aristoteles Thierkunde p. 172.

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/231>, abgerufen am 18.05.2024.