Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.V. Teleologie und Causalität. Denn was ist eine in jedem Organismus liegende "Idee, welche Wir haben absichtlich das Beispiel Johannes Müllers ge- tung anzuerkennen und selbst zu befolgen. Und hie und da gewinnt dann bei
ihnen die letztere Ueberzeugung auch in weiterer Ausdehnung das Uebergewicht über die erstere. So sagen z. B. Bergmann und Leuckart in ihrer vortreff- lichen "anatomisch-physiologischen Uebersicht des Thierreichs," deren schwächste Seite in der vorwiegend teleologischen Beurtheilung der Organisations-Verhält- nisse liegt (p. 22): "Dieselben Ursachen, welche es haben bewirken können, dass einst in so grosser Ausdehnung über der Erkenntniss des Zweckes die Frage nach der Causalität vergessen wurde, bewirken es nun auch heutigen Tages noch, dass diess gar häufig auf dem Gebiete des organischen Lebens geschieht. Der Complex bewirkender Ursachen, durch welchen das organische Wesen entsteht, ist so höchst verwickelt, dass uns hier noch immer die Analyse an vielen Punk- ten vollständig im Stiche lässt. Da ist es nun natürlich, dass die ferne liegende Hoffnung einer solchen Aufklärung gar leicht ganz in den Hintergrund tritt, um so mehr als die Frage nach dem Zwecke nicht nur mannichfach leicht zu beantwor- ten ist, sondern in ihrem Interesse auch noch durch den Egoismus erhöht wird." Selbst Kant, der die Teleologie für die einzig mögliche Beurtheilungs- weise der Organismen erklärt, bemerkt einmal: "Die Zweckmässigkeit ist erst vom reflectirenden Verstande in die Welt gebracht, der demnach ein Wunder anstaunt, das er selbst erst geschaffen hat." V. Teleologie und Causalität. Denn was ist eine in jedem Organismus liegende „Idee, welche Wir haben absichtlich das Beispiel Johannes Müllers ge- tung anzuerkennen und selbst zu befolgen. Und hie und da gewinnt dann bei
ihnen die letztere Ueberzeugung auch in weiterer Ausdehnung das Uebergewicht über die erstere. So sagen z. B. Bergmann und Leuckart in ihrer vortreff- lichen „anatomisch-physiologischen Uebersicht des Thierreichs,“ deren schwächste Seite in der vorwiegend teleologischen Beurtheilung der Organisations-Verhält- nisse liegt (p. 22): „Dieselben Ursachen, welche es haben bewirken können, dass einst in so grosser Ausdehnung über der Erkenntniss des Zweckes die Frage nach der Causalität vergessen wurde, bewirken es nun auch heutigen Tages noch, dass diess gar häufig auf dem Gebiete des organischen Lebens geschieht. Der Complex bewirkender Ursachen, durch welchen das organische Wesen entsteht, ist so höchst verwickelt, dass uns hier noch immer die Analyse an vielen Punk- ten vollständig im Stiche lässt. Da ist es nun natürlich, dass die ferne liegende Hoffnung einer solchen Aufklärung gar leicht ganz in den Hintergrund tritt, um so mehr als die Frage nach dem Zwecke nicht nur mannichfach leicht zu beantwor- ten ist, sondern in ihrem Interesse auch noch durch den Egoismus erhöht wird.“ Selbst Kant, der die Teleologie für die einzig mögliche Beurtheilungs- weise der Organismen erklärt, bemerkt einmal: „Die Zweckmässigkeit ist erst vom reflectirenden Verstande in die Welt gebracht, der demnach ein Wunder anstaunt, das er selbst erst geschaffen hat.“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0134" n="95"/> <fw place="top" type="header">V. 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Wenn, wie <hi rendition="#g">Müller</hi> sagt, zweck-<lb/> mässig wirken und nothwendig wirken in dieser wirksamen Ursache<lb/> im Organismus eines und dasselbe ist, so fällt die zweckthätige <hi rendition="#g">Causa<lb/> finalis</hi> mit der mechanischen <hi rendition="#g">Causa efficiens</hi> zusammen, so giebt<lb/> die erstere sich selbst auf, um sich der letzteren unterzuordnen, so ist<lb/> die mechanische Auffassung der Organismen als die allein richtige<lb/> anerkannt.</p><lb/> <p>Wir haben absichtlich das Beispiel <hi rendition="#g">Johannes Müllers</hi> ge-<lb/> wählt, um diesen inneren Widerspruch der teleologischen Naturbe-<lb/> trachtung zu zeigen, einerseits weil dieser unser grosser Meister,<lb/> der so erhaben über der grossen Mehrzahl der heutigen Physiologen<lb/> und Morphologen dasteht, von vielen schwächeren Geistern als Autorität<lb/> zu Gunsten der Teleologie angerufen wird, andererseits weil an ihm<lb/> sich dieser innere Widerspruch recht auffallend offenbart. Wer sein<lb/> klassisches „Handbuch der Physiologie des Menschen“ studirt hat,<lb/> wer seine bahnbrechenden, mechanischen Untersuchungen über die<lb/> Physiologie der Stimme und Sprache, des Gesichtssinns und des Ner-<lb/> vensystems etc. kennen gelernt hat, der wird von der allein möglichen<lb/> Anwendung der causal-mechanischen Untersuchungs-Methode des Or-<lb/> ganismus aufs tiefste durchdrungen sein; und er wird sich in dieser<lb/> Ueberzeugung durch die vitalistisch-teleologischen Irrthümer, welche<lb/><note xml:id="seg2pn_7_2" prev="#seg2pn_7_1" place="foot" n="1)">tung anzuerkennen und selbst zu befolgen. Und hie und da gewinnt dann bei<lb/> ihnen die letztere Ueberzeugung auch in weiterer Ausdehnung das Uebergewicht<lb/> über die erstere. So sagen z. 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V. Teleologie und Causalität.
Denn was ist eine in jedem Organismus liegende „Idee, welche
mit Nothwendigkeit und ohne Absicht wirkt,“ anders, als die
mit dem materiellen Substrate des Organismus unzertrennlich verbun-
dene Kraft, welche „mit Nothwendigkeit und ohne Absicht“ sämmtliche
biologische Erscheinungen bedingt? Wenn, wie Müller sagt, zweck-
mässig wirken und nothwendig wirken in dieser wirksamen Ursache
im Organismus eines und dasselbe ist, so fällt die zweckthätige Causa
finalis mit der mechanischen Causa efficiens zusammen, so giebt
die erstere sich selbst auf, um sich der letzteren unterzuordnen, so ist
die mechanische Auffassung der Organismen als die allein richtige
anerkannt.
Wir haben absichtlich das Beispiel Johannes Müllers ge-
wählt, um diesen inneren Widerspruch der teleologischen Naturbe-
trachtung zu zeigen, einerseits weil dieser unser grosser Meister,
der so erhaben über der grossen Mehrzahl der heutigen Physiologen
und Morphologen dasteht, von vielen schwächeren Geistern als Autorität
zu Gunsten der Teleologie angerufen wird, andererseits weil an ihm
sich dieser innere Widerspruch recht auffallend offenbart. Wer sein
klassisches „Handbuch der Physiologie des Menschen“ studirt hat,
wer seine bahnbrechenden, mechanischen Untersuchungen über die
Physiologie der Stimme und Sprache, des Gesichtssinns und des Ner-
vensystems etc. kennen gelernt hat, der wird von der allein möglichen
Anwendung der causal-mechanischen Untersuchungs-Methode des Or-
ganismus aufs tiefste durchdrungen sein; und er wird sich in dieser
Ueberzeugung durch die vitalistisch-teleologischen Irrthümer, welche
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1) tung anzuerkennen und selbst zu befolgen. Und hie und da gewinnt dann bei
ihnen die letztere Ueberzeugung auch in weiterer Ausdehnung das Uebergewicht
über die erstere. So sagen z. B. Bergmann und Leuckart in ihrer vortreff-
lichen „anatomisch-physiologischen Uebersicht des Thierreichs,“ deren schwächste
Seite in der vorwiegend teleologischen Beurtheilung der Organisations-Verhält-
nisse liegt (p. 22): „Dieselben Ursachen, welche es haben bewirken können, dass
einst in so grosser Ausdehnung über der Erkenntniss des Zweckes die Frage
nach der Causalität vergessen wurde, bewirken es nun auch heutigen Tages noch,
dass diess gar häufig auf dem Gebiete des organischen Lebens geschieht. Der
Complex bewirkender Ursachen, durch welchen das organische Wesen entsteht,
ist so höchst verwickelt, dass uns hier noch immer die Analyse an vielen Punk-
ten vollständig im Stiche lässt. Da ist es nun natürlich, dass die ferne liegende
Hoffnung einer solchen Aufklärung gar leicht ganz in den Hintergrund tritt, um
so mehr als die Frage nach dem Zwecke nicht nur mannichfach leicht zu beantwor-
ten ist, sondern in ihrem Interesse auch noch durch den Egoismus erhöht
wird.“ Selbst Kant, der die Teleologie für die einzig mögliche Beurtheilungs-
weise der Organismen erklärt, bemerkt einmal: „Die Zweckmässigkeit ist erst
vom reflectirenden Verstande in die Welt gebracht, der demnach ein Wunder
anstaunt, das er selbst erst geschaffen hat.“
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