V. Teleologie und Causalität. (Vitalismus und Mechanismus.)
"Ein mechanisches Kunstwerk ist hervorgebracht nach einer dem Künstler vorschwebenden Idee, dem Zwecke seiner Wirkung. Eine Idee liegt auch jedem Organismus zu Grunde, und nach dieser Idee werden alle Organe zweckmässig organisirt; aber diese Idee ist ausser der Maschine, dagegen in dem Organismus, und hier schafft sie mit Nothwendigkeit und ohne Absicht. Denn die zweckmässig wir- kende wirksame Ursache der organischen Körper hat keinerlei Wahl, und die Verwirklichung eines einzigen Plans ist ihre Nothwendigkeit; vielmehr ist zweckmässig wirken und nothwendig wirken in dieser wirksamen Ursache ein und dasselbe. Man darf daher die organisirende Kraft nicht mit etwas dem Geistesbewusstsein Ana- logen, man darf ihre blinde nothwendige Thätigkeit mit keinem Begriff- bilden vergleichen. Organismus ist die factische Einheit von organi- scher Schöpfungskraft und organischer Materie." Johannes Müller (Handbuch der Physiologie des Menschen, I, p. 23; II, p. 505).
Indem wir in die Untersuchung des äusserst wichtigen Gegen- satzes zwischen der teleologischen oder vitalistischen und der mecha- nischen oder causalistischen Naturbetrachtung eintreten, schicken wir einen Ausspruch Johannes Müller's voraus, der für das Wesen die- ses Gegensatzes sehr characteristisch ist. Johannes Müller, den wir als den grössten Physiologen und Morphologen der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts verehren, war bekanntlich seiner innersten Ueber- zeugung nach Vitalist, trotzdem er mehr als irgend ein anderer Phy- siolog vor ihm, für den Durchbruch der mechanischen Richtung in der Physiologie gethan und in einer Reihe der glänzendsten und vorzüg- lichsten Arbeiten auf allen einzelnen physiologischen Gebietstheilen die alleinige Anwendbarkeit der mechanischen Methode bewiesen hatte. Es begegnete ihm nur bisweilen, wie auch anderen in diesem dualisti- schen Zwiespalt befangenen Naturforschern, dass er auch in seinen allgemeinen Aussprüchen, die doch eigentlich von vitalistischen Grund- lagen ausgingen, sich von der allein richtigen mechanischen Beurthei- lungsweise auch der organischen Naturkörper fortreissen liess. Und als ein solcher Ausspruch ist die obige Stelle, durch welche er seine Be- trachtungen über das Seelenleben einleitet, von besonderem Interesse. 1).
1) Aehnliche innere Widersprüche lassen sich häufig und leicht bei vielen geistvollen Naturforschern nachweisen, welche, theils in Folge vieler von früher Jugend an tief eingesogener Vorurtheile, theils in Folge eines Ueberwiegens der Gemüths-Bedürfnisse über die Verstandes-Erkenntnisse, im Allgemeinen zwar einer teleologischen oder vitalistischen Richtung zugethan sind, im Einzelnen aber dennoch stets gezwungen sind, die mechanische oder causalistische Rich-
Methodik der Morphologie der Organismen.
V. Teleologie und Causalität. (Vitalismus und Mechanismus.)
„Ein mechanisches Kunstwerk ist hervorgebracht nach einer dem Künstler vorschwebenden Idee, dem Zwecke seiner Wirkung. Eine Idee liegt auch jedem Organismus zu Grunde, und nach dieser Idee werden alle Organe zweckmässig organisirt; aber diese Idee ist ausser der Maschine, dagegen in dem Organismus, und hier schafft sie mit Nothwendigkeit und ohne Absicht. Denn die zweckmässig wir- kende wirksame Ursache der organischen Körper hat keinerlei Wahl, und die Verwirklichung eines einzigen Plans ist ihre Nothwendigkeit; vielmehr ist zweckmässig wirken und nothwendig wirken in dieser wirksamen Ursache ein und dasselbe. Man darf daher die organisirende Kraft nicht mit etwas dem Geistesbewusstsein Ana- logen, man darf ihre blinde nothwendige Thätigkeit mit keinem Begriff- bilden vergleichen. Organismus ist die factische Einheit von organi- scher Schöpfungskraft und organischer Materie.“ Johannes Müller (Handbuch der Physiologie des Menschen, I, p. 23; II, p. 505).
Indem wir in die Untersuchung des äusserst wichtigen Gegen- satzes zwischen der teleologischen oder vitalistischen und der mecha- nischen oder causalistischen Naturbetrachtung eintreten, schicken wir einen Ausspruch Johannes Müller’s voraus, der für das Wesen die- ses Gegensatzes sehr characteristisch ist. Johannes Müller, den wir als den grössten Physiologen und Morphologen der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts verehren, war bekanntlich seiner innersten Ueber- zeugung nach Vitalist, trotzdem er mehr als irgend ein anderer Phy- siolog vor ihm, für den Durchbruch der mechanischen Richtung in der Physiologie gethan und in einer Reihe der glänzendsten und vorzüg- lichsten Arbeiten auf allen einzelnen physiologischen Gebietstheilen die alleinige Anwendbarkeit der mechanischen Methode bewiesen hatte. Es begegnete ihm nur bisweilen, wie auch anderen in diesem dualisti- schen Zwiespalt befangenen Naturforschern, dass er auch in seinen allgemeinen Aussprüchen, die doch eigentlich von vitalistischen Grund- lagen ausgingen, sich von der allein richtigen mechanischen Beurthei- lungsweise auch der organischen Naturkörper fortreissen liess. Und als ein solcher Ausspruch ist die obige Stelle, durch welche er seine Be- trachtungen über das Seelenleben einleitet, von besonderem Interesse. 1).
1) Aehnliche innere Widersprüche lassen sich häufig und leicht bei vielen geistvollen Naturforschern nachweisen, welche, theils in Folge vieler von früher Jugend an tief eingesogener Vorurtheile, theils in Folge eines Ueberwiegens der Gemüths-Bedürfnisse über die Verstandes-Erkenntnisse, im Allgemeinen zwar einer teleologischen oder vitalistischen Richtung zugethan sind, im Einzelnen aber dennoch stets gezwungen sind, die mechanische oder causalistische Rich-
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Methodik der Morphologie der Organismen.
V. Teleologie und Causalität.
(Vitalismus und Mechanismus.)
„Ein mechanisches Kunstwerk ist hervorgebracht nach einer dem
Künstler vorschwebenden Idee, dem Zwecke seiner Wirkung. Eine
Idee liegt auch jedem Organismus zu Grunde, und nach dieser Idee
werden alle Organe zweckmässig organisirt; aber diese Idee ist ausser
der Maschine, dagegen in dem Organismus, und hier schafft sie mit
Nothwendigkeit und ohne Absicht. Denn die zweckmässig wir-
kende wirksame Ursache der organischen Körper hat keinerlei Wahl,
und die Verwirklichung eines einzigen Plans ist ihre Nothwendigkeit;
vielmehr ist zweckmässig wirken und nothwendig wirken in
dieser wirksamen Ursache ein und dasselbe. Man darf daher
die organisirende Kraft nicht mit etwas dem Geistesbewusstsein Ana-
logen, man darf ihre blinde nothwendige Thätigkeit mit keinem Begriff-
bilden vergleichen. Organismus ist die factische Einheit von organi-
scher Schöpfungskraft und organischer Materie.“ Johannes Müller
(Handbuch der Physiologie des Menschen, I, p. 23; II, p. 505).
Indem wir in die Untersuchung des äusserst wichtigen Gegen-
satzes zwischen der teleologischen oder vitalistischen und der mecha-
nischen oder causalistischen Naturbetrachtung eintreten, schicken wir
einen Ausspruch Johannes Müller’s voraus, der für das Wesen die-
ses Gegensatzes sehr characteristisch ist. Johannes Müller, den
wir als den grössten Physiologen und Morphologen der ersten Hälfte
unseres Jahrhunderts verehren, war bekanntlich seiner innersten Ueber-
zeugung nach Vitalist, trotzdem er mehr als irgend ein anderer Phy-
siolog vor ihm, für den Durchbruch der mechanischen Richtung in der
Physiologie gethan und in einer Reihe der glänzendsten und vorzüg-
lichsten Arbeiten auf allen einzelnen physiologischen Gebietstheilen die
alleinige Anwendbarkeit der mechanischen Methode bewiesen hatte.
Es begegnete ihm nur bisweilen, wie auch anderen in diesem dualisti-
schen Zwiespalt befangenen Naturforschern, dass er auch in seinen
allgemeinen Aussprüchen, die doch eigentlich von vitalistischen Grund-
lagen ausgingen, sich von der allein richtigen mechanischen Beurthei-
lungsweise auch der organischen Naturkörper fortreissen liess. Und
als ein solcher Ausspruch ist die obige Stelle, durch welche er seine Be-
trachtungen über das Seelenleben einleitet, von besonderem Interesse. 1).
1) Aehnliche innere Widersprüche lassen sich häufig und leicht bei vielen
geistvollen Naturforschern nachweisen, welche, theils in Folge vieler von früher
Jugend an tief eingesogener Vorurtheile, theils in Folge eines Ueberwiegens der
Gemüths-Bedürfnisse über die Verstandes-Erkenntnisse, im Allgemeinen zwar
einer teleologischen oder vitalistischen Richtung zugethan sind, im Einzelnen
aber dennoch stets gezwungen sind, die mechanische oder causalistische Rich-
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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/133>, abgerufen am 22.11.2024.
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