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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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I. Empirie und Philosophie.
ersten Male als vollkommen abgerundete Theorie aufstellte, eilte mit ihrem
prophetischen Gedankenfluge seiner Zeit so voraus, dass sie von seinen
Zeitgenossen gar nicht verstanden und ein volles halbes Jahrundert hin-
durch (1809--1859) todtgeschwiegen wurde. Johannes Müller, den wir
Deutschen mit gerechtem Stolz als den grössten Biologen der ersten Hälfte
des neunzehnten Jahrhunderts unser eigen nennen, und der in den Augen
der meisten jetzt lebenden Biologen als der strengste Empiriker und Geg-
ner der Naturphilosophie gilt, verdankt die Fülle seiner zahlreichen und
grossen Entdeckungen viel weniger seinem ausgezeichneten sinnlichen Be-
obachtungstalent, als seinem combinirenden Gedankenreichthum und der
natürlichen Philosophie seiner wahrhaft denkenden Beobachtungsmethode.
Charles Darwin, der grösste aller jetzt lebenden Naturforscher, über-
ragt uns Alle nicht allein durch Ideenreichthum und Gedankenfülle seines die
ganze organische Natur umfassenden Geistes, sondern eben so sehr durch
die intensiv und extensiv gleich bedeutende und fruchtbare Methode seiner
empirischen Naturbeobachtung.

Nach unserer festesten Ueberzeugung können nur diejenigen Natur-
forscher wahrhaft fördernd und schaffend in den Gang der Wissenschaft
eingreifen, welche, bewusst oder unbewusst, eben so scharfe Denker, als
sorgfältige Beobachter sind. Niemals kann die blosse Entdeckung einer
nackten Thatsache, und wäre sie noch so merkwürdig, einen wahrhaften
Fortschritt in der Naturwissenschaft herbeiführen, sondern stets nur der
Gedanke, die Theorie, welche diese Thatsache erklärt, sie mit den ver-
wandten Thatsachen vergleichend verbindet, und daraus ein Gesetz ab-
leitet. Betrachten wir die grössten Naturforscher, welche zu allen Zeiten
auf dem biologischen Gebiete thätig gewesen sind, von Aristoteles an,
Linne und Cuvier, Lamarck und Goethe, Bär und Johannes Müller
und wie die Reihe der glänzenden Sterne erster Grösse, bis auf Charles
Darwin
herab, weiter heisst -- sie alle sind ebenso grosse Denker, als
Beobachter gewesen, und sie alle verdanken ihren unsterblichen Ruhm
nicht der Summe der einzelnen von ihnen entdeckten Thatsachen, sondern
ihrem denkenden Geiste, der diese Thatsachen in Zusammenhang zu bringen
und daraus Gesetze abzuleiten verstand. Die rein empirischen Naturforscher,
welche nur durch Entdeckung neuer Thatsachen die Wissenschaft zu för-
dern glauben, können in derselben ebenso wenig etwas leisten, als die rein
speculativen Philosophen, welche der Thatsachen entbehren zu können
glauben und die Natur aus ihren Gedanken construiren wollen. Diese wer-
den zu phantastischen Träumern, jene im besten Falle zu genauen Copir-
maschinen der Natur. Im Grunde freilich gestaltet sich das thatsächliche
Verhältniss überall so, dass die reinen Empiriker sich mit einer unvollstän-
digen und unklaren, ihnen selbst nicht bewussten Philosophie, die reinen Phi-
losophen
dagegen mit einer eben solchen, unreinen und mangelhaften Empirie
begnügen. Das Ziel der Naturwissenschaft ist die Herstellung eines vollkom-
men architectonisch geordneten Lehrgebäudes. Der reine Empiriker bringt
statt dessen einen ungeordneten Steinhaufen zusammen; der reine Philosoph
auf der andern Seite baut Luftschlösser, welche der erste empirische Wind-
stoss über den Haufen wirft. Jener begnügt sich mit dem Rohmaterial,

I. Empirie und Philosophie.
ersten Male als vollkommen abgerundete Theorie aufstellte, eilte mit ihrem
prophetischen Gedankenfluge seiner Zeit so voraus, dass sie von seinen
Zeitgenossen gar nicht verstanden und ein volles halbes Jahrundert hin-
durch (1809—1859) todtgeschwiegen wurde. Johannes Müller, den wir
Deutschen mit gerechtem Stolz als den grössten Biologen der ersten Hälfte
des neunzehnten Jahrhunderts unser eigen nennen, und der in den Augen
der meisten jetzt lebenden Biologen als der strengste Empiriker und Geg-
ner der Naturphilosophie gilt, verdankt die Fülle seiner zahlreichen und
grossen Entdeckungen viel weniger seinem ausgezeichneten sinnlichen Be-
obachtungstalent, als seinem combinirenden Gedankenreichthum und der
natürlichen Philosophie seiner wahrhaft denkenden Beobachtungsmethode.
Charles Darwin, der grösste aller jetzt lebenden Naturforscher, über-
ragt uns Alle nicht allein durch Ideenreichthum und Gedankenfülle seines die
ganze organische Natur umfassenden Geistes, sondern eben so sehr durch
die intensiv und extensiv gleich bedeutende und fruchtbare Methode seiner
empirischen Naturbeobachtung.

Nach unserer festesten Ueberzeugung können nur diejenigen Natur-
forscher wahrhaft fördernd und schaffend in den Gang der Wissenschaft
eingreifen, welche, bewusst oder unbewusst, eben so scharfe Denker, als
sorgfältige Beobachter sind. Niemals kann die blosse Entdeckung einer
nackten Thatsache, und wäre sie noch so merkwürdig, einen wahrhaften
Fortschritt in der Naturwissenschaft herbeiführen, sondern stets nur der
Gedanke, die Theorie, welche diese Thatsache erklärt, sie mit den ver-
wandten Thatsachen vergleichend verbindet, und daraus ein Gesetz ab-
leitet. Betrachten wir die grössten Naturforscher, welche zu allen Zeiten
auf dem biologischen Gebiete thätig gewesen sind, von Aristoteles an,
Linné und Cuvier, Lamarck und Goethe, Bär und Johannes Müller
und wie die Reihe der glänzenden Sterne erster Grösse, bis auf Charles
Darwin
herab, weiter heisst — sie alle sind ebenso grosse Denker, als
Beobachter gewesen, und sie alle verdanken ihren unsterblichen Ruhm
nicht der Summe der einzelnen von ihnen entdeckten Thatsachen, sondern
ihrem denkenden Geiste, der diese Thatsachen in Zusammenhang zu bringen
und daraus Gesetze abzuleiten verstand. Die rein empirischen Naturforscher,
welche nur durch Entdeckung neuer Thatsachen die Wissenschaft zu för-
dern glauben, können in derselben ebenso wenig etwas leisten, als die rein
speculativen Philosophen, welche der Thatsachen entbehren zu können
glauben und die Natur aus ihren Gedanken construiren wollen. Diese wer-
den zu phantastischen Träumern, jene im besten Falle zu genauen Copir-
maschinen der Natur. Im Grunde freilich gestaltet sich das thatsächliche
Verhältniss überall so, dass die reinen Empiriker sich mit einer unvollstän-
digen und unklaren, ihnen selbst nicht bewussten Philosophie, die reinen Phi-
losophen
dagegen mit einer eben solchen, unreinen und mangelhaften Empirie
begnügen. Das Ziel der Naturwissenschaft ist die Herstellung eines vollkom-
men architectonisch geordneten Lehrgebäudes. Der reine Empiriker bringt
statt dessen einen ungeordneten Steinhaufen zusammen; der reine Philosoph
auf der andern Seite baut Luftschlösser, welche der erste empirische Wind-
stoss über den Haufen wirft. Jener begnügt sich mit dem Rohmaterial,

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[73/0112] I. Empirie und Philosophie. ersten Male als vollkommen abgerundete Theorie aufstellte, eilte mit ihrem prophetischen Gedankenfluge seiner Zeit so voraus, dass sie von seinen Zeitgenossen gar nicht verstanden und ein volles halbes Jahrundert hin- durch (1809—1859) todtgeschwiegen wurde. Johannes Müller, den wir Deutschen mit gerechtem Stolz als den grössten Biologen der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts unser eigen nennen, und der in den Augen der meisten jetzt lebenden Biologen als der strengste Empiriker und Geg- ner der Naturphilosophie gilt, verdankt die Fülle seiner zahlreichen und grossen Entdeckungen viel weniger seinem ausgezeichneten sinnlichen Be- obachtungstalent, als seinem combinirenden Gedankenreichthum und der natürlichen Philosophie seiner wahrhaft denkenden Beobachtungsmethode. Charles Darwin, der grösste aller jetzt lebenden Naturforscher, über- ragt uns Alle nicht allein durch Ideenreichthum und Gedankenfülle seines die ganze organische Natur umfassenden Geistes, sondern eben so sehr durch die intensiv und extensiv gleich bedeutende und fruchtbare Methode seiner empirischen Naturbeobachtung. Nach unserer festesten Ueberzeugung können nur diejenigen Natur- forscher wahrhaft fördernd und schaffend in den Gang der Wissenschaft eingreifen, welche, bewusst oder unbewusst, eben so scharfe Denker, als sorgfältige Beobachter sind. Niemals kann die blosse Entdeckung einer nackten Thatsache, und wäre sie noch so merkwürdig, einen wahrhaften Fortschritt in der Naturwissenschaft herbeiführen, sondern stets nur der Gedanke, die Theorie, welche diese Thatsache erklärt, sie mit den ver- wandten Thatsachen vergleichend verbindet, und daraus ein Gesetz ab- leitet. Betrachten wir die grössten Naturforscher, welche zu allen Zeiten auf dem biologischen Gebiete thätig gewesen sind, von Aristoteles an, Linné und Cuvier, Lamarck und Goethe, Bär und Johannes Müller und wie die Reihe der glänzenden Sterne erster Grösse, bis auf Charles Darwin herab, weiter heisst — sie alle sind ebenso grosse Denker, als Beobachter gewesen, und sie alle verdanken ihren unsterblichen Ruhm nicht der Summe der einzelnen von ihnen entdeckten Thatsachen, sondern ihrem denkenden Geiste, der diese Thatsachen in Zusammenhang zu bringen und daraus Gesetze abzuleiten verstand. Die rein empirischen Naturforscher, welche nur durch Entdeckung neuer Thatsachen die Wissenschaft zu för- dern glauben, können in derselben ebenso wenig etwas leisten, als die rein speculativen Philosophen, welche der Thatsachen entbehren zu können glauben und die Natur aus ihren Gedanken construiren wollen. Diese wer- den zu phantastischen Träumern, jene im besten Falle zu genauen Copir- maschinen der Natur. Im Grunde freilich gestaltet sich das thatsächliche Verhältniss überall so, dass die reinen Empiriker sich mit einer unvollstän- digen und unklaren, ihnen selbst nicht bewussten Philosophie, die reinen Phi- losophen dagegen mit einer eben solchen, unreinen und mangelhaften Empirie begnügen. Das Ziel der Naturwissenschaft ist die Herstellung eines vollkom- men architectonisch geordneten Lehrgebäudes. Der reine Empiriker bringt statt dessen einen ungeordneten Steinhaufen zusammen; der reine Philosoph auf der andern Seite baut Luftschlösser, welche der erste empirische Wind- stoss über den Haufen wirft. Jener begnügt sich mit dem Rohmaterial,

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/112>, abgerufen am 24.11.2024.