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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866.

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I. Empirie und Philosophie.
die neuere Biologie befangen ist, wenn sie die nackte gedankenlose Be
schreibung innerer und feinerer, insbesondere mikroskopischer Form-
verhältnisse als "wissenschaftliche Zoologie" und "wissenschaft-
liche Botanik
" preist und mit nicht geringem Stolze der früher aus-
schliesslich herrschenden reinen Beschreibung der äusseren und gröberen
Formverhältnisse gegenüberstellt, welche die sogenannten "Systematiker"
beschäftigt. Sobald bei diesen beiden Richtungen, die sich so scharf gegen-
über zu stellen belieben, die Beschreibung an sich das Ziel ist (-- gleich-
viel ob der inneren oder äusseren, der feineren oder gröberen Formen --),
so ist die eine genau so viel werth, als die andere. Beide werden erst zur
Wissenschaft, wenn sie die Form zu erklären und auf Gesetze zurückzu-
führen streben.

Nach unserer eigenen innigsten Ueberzeugung ist der Rückschlag, der
gegen diese ganz einseitige und daher beschränkte Empirie nothwendig frü-
her oder später erfolgen musste, bereits thatsächlich erfolgt, wenn auch zu-
nächst nur in wenigen engen Kreisen. Die 1859 von Charles Darwin
veröffentlichte Entdeckung der natürlichen Zuchtwahl im Kampfe ums Da-
sein, eine der grössten Entdeckungen des menschlichen Forschungstriebes,
hat mit einem Male ein so gewaltiges und klärendes Licht in das dunkle
Chaos der haufenweis gesammelten biologischen Thatsachen geworfen, dass
es auch den crassesten Empirikern fernerhin, wenn sie überhaupt mit der
Wissenschaft fortschreiten wollen, nicht mehr möglich sein wird, sich der
daraus emporwachsenden neuen Naturphilosophie zu entziehen. Indem die
von Darwin neu begründete Descendenz-Theorie die ganze gewaltige Fülle
der seither empirisch angehäuften Thatsachen-Massen durch einen einzigen
genialen Gedanken erleuchtet, die schwierigsten Probleme der Biologie aus
dem einen obersten Gesetze der "wirkenden Ursachen" vollständig erklärt,
die unzusammenhängende Masse aller biologischen Erscheinungen auf die-
ses eine einfache grosse Naturgesetz zurückführt, hat sie bereits thatsäch-
lich die bisher ausschliesslich herrschende Empirie völlig überflügelt und
einer neuen und gesunden Philosophie die weiteste und fruchtbarste Bahn
geöffnet. Es ist eine Hauptaufgabe des vorliegenden Werkes, zu zeigen,
wie die wichtigsten Erscheinungsreihen der Morphologie sich mit Hülfe der-
selben vollständig erklären und auf grosse und allgemeine Naturgesetze
zurückführen lassen.

Wenn wir das Resultat dieses flüchtigen Ueberblickes über den inneren
Entwickelungsgang der Morphologie in wenigen Worten zusammenfassen, so
können wir füglich von Beginn des achtzehnten Jahrhunderts an bis jetzt
vier, abwechselnd empirische und philosophische Perioden der Morphologie
unterscheiden, welche durch die Namen von Linne, Lamarck, Cuvier,
Darwin
bezeichnet sind, nämlich: I. Periode: Linne (geb. 1707). Erste
empirische Periode
(Achtzehntes Jahrhundert). Herrschaft der empiri-
schen äusseren Morphologie (Systematik). II. Periode: Lamarck (geb. 1744)
und Goethe (geb. 1749 1). Erste philosophische Periode. (Erstes

1) Wir nennen hier absichtlich Lamarck und Goethe als die geistvollsten
Repräsentanten der älteren Naturphilosophie, wenngleich sie sich entfernt nicht

I. Empirie und Philosophie.
die neuere Biologie befangen ist, wenn sie die nackte gedankenlose Be
schreibung innerer und feinerer, insbesondere mikroskopischer Form-
verhältnisse als „wissenschaftliche Zoologie“ und „wissenschaft-
liche Botanik
“ preist und mit nicht geringem Stolze der früher aus-
schliesslich herrschenden reinen Beschreibung der äusseren und gröberen
Formverhältnisse gegenüberstellt, welche die sogenannten „Systematiker“
beschäftigt. Sobald bei diesen beiden Richtungen, die sich so scharf gegen-
über zu stellen belieben, die Beschreibung an sich das Ziel ist (— gleich-
viel ob der inneren oder äusseren, der feineren oder gröberen Formen —),
so ist die eine genau so viel werth, als die andere. Beide werden erst zur
Wissenschaft, wenn sie die Form zu erklären und auf Gesetze zurückzu-
führen streben.

Nach unserer eigenen innigsten Ueberzeugung ist der Rückschlag, der
gegen diese ganz einseitige und daher beschränkte Empirie nothwendig frü-
her oder später erfolgen musste, bereits thatsächlich erfolgt, wenn auch zu-
nächst nur in wenigen engen Kreisen. Die 1859 von Charles Darwin
veröffentlichte Entdeckung der natürlichen Zuchtwahl im Kampfe ums Da-
sein, eine der grössten Entdeckungen des menschlichen Forschungstriebes,
hat mit einem Male ein so gewaltiges und klärendes Licht in das dunkle
Chaos der haufenweis gesammelten biologischen Thatsachen geworfen, dass
es auch den crassesten Empirikern fernerhin, wenn sie überhaupt mit der
Wissenschaft fortschreiten wollen, nicht mehr möglich sein wird, sich der
daraus emporwachsenden neuen Naturphilosophie zu entziehen. Indem die
von Darwin neu begründete Descendenz-Theorie die ganze gewaltige Fülle
der seither empirisch angehäuften Thatsachen-Massen durch einen einzigen
genialen Gedanken erleuchtet, die schwierigsten Probleme der Biologie aus
dem einen obersten Gesetze der „wirkenden Ursachen“ vollständig erklärt,
die unzusammenhängende Masse aller biologischen Erscheinungen auf die-
ses eine einfache grosse Naturgesetz zurückführt, hat sie bereits thatsäch-
lich die bisher ausschliesslich herrschende Empirie völlig überflügelt und
einer neuen und gesunden Philosophie die weiteste und fruchtbarste Bahn
geöffnet. Es ist eine Hauptaufgabe des vorliegenden Werkes, zu zeigen,
wie die wichtigsten Erscheinungsreihen der Morphologie sich mit Hülfe der-
selben vollständig erklären und auf grosse und allgemeine Naturgesetze
zurückführen lassen.

Wenn wir das Resultat dieses flüchtigen Ueberblickes über den inneren
Entwickelungsgang der Morphologie in wenigen Worten zusammenfassen, so
können wir füglich von Beginn des achtzehnten Jahrhunderts an bis jetzt
vier, abwechselnd empirische und philosophische Perioden der Morphologie
unterscheiden, welche durch die Namen von Linné, Lamarck, Cuvier,
Darwin
bezeichnet sind, nämlich: I. Periode: Linné (geb. 1707). Erste
empirische Periode
(Achtzehntes Jahrhundert). Herrschaft der empiri-
schen äusseren Morphologie (Systematik). II. Periode: Lamarck (geb. 1744)
und Goethe (geb. 1749 1). Erste philosophische Periode. (Erstes

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[71/0110] I. Empirie und Philosophie. die neuere Biologie befangen ist, wenn sie die nackte gedankenlose Be schreibung innerer und feinerer, insbesondere mikroskopischer Form- verhältnisse als „wissenschaftliche Zoologie“ und „wissenschaft- liche Botanik“ preist und mit nicht geringem Stolze der früher aus- schliesslich herrschenden reinen Beschreibung der äusseren und gröberen Formverhältnisse gegenüberstellt, welche die sogenannten „Systematiker“ beschäftigt. Sobald bei diesen beiden Richtungen, die sich so scharf gegen- über zu stellen belieben, die Beschreibung an sich das Ziel ist (— gleich- viel ob der inneren oder äusseren, der feineren oder gröberen Formen —), so ist die eine genau so viel werth, als die andere. Beide werden erst zur Wissenschaft, wenn sie die Form zu erklären und auf Gesetze zurückzu- führen streben. Nach unserer eigenen innigsten Ueberzeugung ist der Rückschlag, der gegen diese ganz einseitige und daher beschränkte Empirie nothwendig frü- her oder später erfolgen musste, bereits thatsächlich erfolgt, wenn auch zu- nächst nur in wenigen engen Kreisen. Die 1859 von Charles Darwin veröffentlichte Entdeckung der natürlichen Zuchtwahl im Kampfe ums Da- sein, eine der grössten Entdeckungen des menschlichen Forschungstriebes, hat mit einem Male ein so gewaltiges und klärendes Licht in das dunkle Chaos der haufenweis gesammelten biologischen Thatsachen geworfen, dass es auch den crassesten Empirikern fernerhin, wenn sie überhaupt mit der Wissenschaft fortschreiten wollen, nicht mehr möglich sein wird, sich der daraus emporwachsenden neuen Naturphilosophie zu entziehen. Indem die von Darwin neu begründete Descendenz-Theorie die ganze gewaltige Fülle der seither empirisch angehäuften Thatsachen-Massen durch einen einzigen genialen Gedanken erleuchtet, die schwierigsten Probleme der Biologie aus dem einen obersten Gesetze der „wirkenden Ursachen“ vollständig erklärt, die unzusammenhängende Masse aller biologischen Erscheinungen auf die- ses eine einfache grosse Naturgesetz zurückführt, hat sie bereits thatsäch- lich die bisher ausschliesslich herrschende Empirie völlig überflügelt und einer neuen und gesunden Philosophie die weiteste und fruchtbarste Bahn geöffnet. Es ist eine Hauptaufgabe des vorliegenden Werkes, zu zeigen, wie die wichtigsten Erscheinungsreihen der Morphologie sich mit Hülfe der- selben vollständig erklären und auf grosse und allgemeine Naturgesetze zurückführen lassen. Wenn wir das Resultat dieses flüchtigen Ueberblickes über den inneren Entwickelungsgang der Morphologie in wenigen Worten zusammenfassen, so können wir füglich von Beginn des achtzehnten Jahrhunderts an bis jetzt vier, abwechselnd empirische und philosophische Perioden der Morphologie unterscheiden, welche durch die Namen von Linné, Lamarck, Cuvier, Darwin bezeichnet sind, nämlich: I. Periode: Linné (geb. 1707). Erste empirische Periode (Achtzehntes Jahrhundert). Herrschaft der empiri- schen äusseren Morphologie (Systematik). II. Periode: Lamarck (geb. 1744) und Goethe (geb. 1749 1). Erste philosophische Periode. (Erstes 1) Wir nennen hier absichtlich Lamarck und Goethe als die geistvollsten Repräsentanten der älteren Naturphilosophie, wenngleich sie sich entfernt nicht

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Zitationshilfe: Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 71. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/110>, abgerufen am 24.11.2024.