vereinigen mögen. Haben wir die Geschichte der Wissenschaften und eine eigene lange Erfahrung vor Augen, so möchte man befürchten, die menschliche Natur werde sich von diesem Zwiespalt kaum jemals retten können."
Die Niederlage der älteren Naturphilosophie, welche Cuvier als der Heerführer der neu erstehenden "exacten Empirie" herbeigeführt und in jenem Conflict offenbar gemacht hatte, war so vollständig, dass in den folgenden drei Decennien, von 1830--1860, unter der nun allgemein sich ausbreitenden empirischen Schule von Philosophie gar keine Rede mehr war. Mit den Träumereien und Phantasiespielen jener ausgearteten Natur- phantasterei wurden auch die wahren und grossen Verdienste der alten Na- turphilosophie vergessen, aus der jene hervorgegangen war, und man ge- wöhnte sich sehr allgemein an die Vorstellung, dass Naturwissenschaft und Philosophie in einem unversöhnlichen Gegensatze zu einander ständen. Dieser Irrthum wurde dadurch insbesondere begünstigt, dass die verbesser- ten Instrumente und Beobachtungs-Methoden der Neuzeit, und vor Allem die sehr verbesserten Mikroskope, der empirischen Naturbeobachtung ein unendlich weites Feld der Forschung eröffneten, auf welchem es ein Leichtes war, mit wenig Mühe und ohne grosse Gedanken-Anstrengung, Entdeckungen neuer Formverhältnisse in Hülle und Fülle zu machen. Während die Be- obachtungen der ersten empirischen Periode, welche sich aus Linne's Schule entwickelte, vorzugsweise nur auf die äusseren Formenverhältnisse der Organismen gerichtet gewesen waren, wandte sich nun die zweite empirische Periode, welche aus Cuvier's Schule hervorging, vorwiegend der Beobachtung des inneren Baues der Thiere und Pflanzen zu. Und in der That gab es hier, nachdem Cuvier durch Begründung der vergleichen- den Anatomie und der Palaeontologie ein weites neues Feld der Beobachtung geöffnet, nachdem Bär durch Reformation der Entwickelungsgeschichte und Schwann durch Begründung der Gewebelehre auf dem thierischen, Schleiden auf dem pflanzlichen Gebiete neue und grosse Ziele gesteckt, nachdem Johannes Müller die gesammte Biologie mit gewaltiger Hand in die neu geöffneten Bahnen der exacten Beobachtung hineingewiesen hatte, überall so unendlich Viel zu beobachten und zu beschreiben, es wurde so leicht, mit nur wenig Geduld, Fleiss und Beobachtungsgabe neue That- sachen zu entdecken, dass wir uns nicht wundern können, wenn darüber die leitenden Principien der Naturforschung gänzlich vernachlässigt und die erklärende Gedanken-Arbeit von den meisten völlig vergessen wurde. Da noch im gegenwärtigen Augenblick diese "rein empirische" Richtung die allgemein überwiegende ist, da die Bezeichnung der Naturphilosophie noch in den weitesten naturwissenschaftlichen Kreisen nur als Schimpfwort gilt und selbst von den hervorragendsten Biologen nur in diesem Sinne ge- braucht wird, so haben wir nicht nöthig, die grenzenlose Einseitigkeit dieser Richtung noch näher zu erläutern, und werden nur noch insofern näher darauf eingehen, als wir gezwungen sind, unseren Zeitgenossen ihr "exact- empirisches," d. h. gedankenloses und beschränktes Spiegelbild vorzuhalten. Theilweise ist dies schon im vorigen Capitel geschehen. Wiederholt wollen wir hier nur nochmals auf die seltsame Selbsttäuschung hinweisen, in welcher
Methodik der Morphologie der Organismen.
vereinigen mögen. Haben wir die Geschichte der Wissenschaften und eine eigene lange Erfahrung vor Augen, so möchte man befürchten, die menschliche Natur werde sich von diesem Zwiespalt kaum jemals retten können.“
Die Niederlage der älteren Naturphilosophie, welche Cuvier als der Heerführer der neu erstehenden „exacten Empirie“ herbeigeführt und in jenem Conflict offenbar gemacht hatte, war so vollständig, dass in den folgenden drei Decennien, von 1830—1860, unter der nun allgemein sich ausbreitenden empirischen Schule von Philosophie gar keine Rede mehr war. Mit den Träumereien und Phantasiespielen jener ausgearteten Natur- phantasterei wurden auch die wahren und grossen Verdienste der alten Na- turphilosophie vergessen, aus der jene hervorgegangen war, und man ge- wöhnte sich sehr allgemein an die Vorstellung, dass Naturwissenschaft und Philosophie in einem unversöhnlichen Gegensatze zu einander ständen. Dieser Irrthum wurde dadurch insbesondere begünstigt, dass die verbesser- ten Instrumente und Beobachtungs-Methoden der Neuzeit, und vor Allem die sehr verbesserten Mikroskope, der empirischen Naturbeobachtung ein unendlich weites Feld der Forschung eröffneten, auf welchem es ein Leichtes war, mit wenig Mühe und ohne grosse Gedanken-Anstrengung, Entdeckungen neuer Formverhältnisse in Hülle und Fülle zu machen. Während die Be- obachtungen der ersten empirischen Periode, welche sich aus Linné’s Schule entwickelte, vorzugsweise nur auf die äusseren Formenverhältnisse der Organismen gerichtet gewesen waren, wandte sich nun die zweite empirische Periode, welche aus Cuvier’s Schule hervorging, vorwiegend der Beobachtung des inneren Baues der Thiere und Pflanzen zu. Und in der That gab es hier, nachdem Cuvier durch Begründung der vergleichen- den Anatomie und der Palaeontologie ein weites neues Feld der Beobachtung geöffnet, nachdem Bär durch Reformation der Entwickelungsgeschichte und Schwann durch Begründung der Gewebelehre auf dem thierischen, Schleiden auf dem pflanzlichen Gebiete neue und grosse Ziele gesteckt, nachdem Johannes Müller die gesammte Biologie mit gewaltiger Hand in die neu geöffneten Bahnen der exacten Beobachtung hineingewiesen hatte, überall so unendlich Viel zu beobachten und zu beschreiben, es wurde so leicht, mit nur wenig Geduld, Fleiss und Beobachtungsgabe neue That- sachen zu entdecken, dass wir uns nicht wundern können, wenn darüber die leitenden Principien der Naturforschung gänzlich vernachlässigt und die erklärende Gedanken-Arbeit von den meisten völlig vergessen wurde. Da noch im gegenwärtigen Augenblick diese „rein empirische“ Richtung die allgemein überwiegende ist, da die Bezeichnung der Naturphilosophie noch in den weitesten naturwissenschaftlichen Kreisen nur als Schimpfwort gilt und selbst von den hervorragendsten Biologen nur in diesem Sinne ge- braucht wird, so haben wir nicht nöthig, die grenzenlose Einseitigkeit dieser Richtung noch näher zu erläutern, und werden nur noch insofern näher darauf eingehen, als wir gezwungen sind, unseren Zeitgenossen ihr „exact- empirisches,“ d. h. gedankenloses und beschränktes Spiegelbild vorzuhalten. Theilweise ist dies schon im vorigen Capitel geschehen. Wiederholt wollen wir hier nur nochmals auf die seltsame Selbsttäuschung hinweisen, in welcher
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Methodik der Morphologie der Organismen.
vereinigen mögen. Haben wir die Geschichte der Wissenschaften und
eine eigene lange Erfahrung vor Augen, so möchte man befürchten, die
menschliche Natur werde sich von diesem Zwiespalt kaum jemals retten
können.“
Die Niederlage der älteren Naturphilosophie, welche Cuvier als der
Heerführer der neu erstehenden „exacten Empirie“ herbeigeführt und in
jenem Conflict offenbar gemacht hatte, war so vollständig, dass in den
folgenden drei Decennien, von 1830—1860, unter der nun allgemein sich
ausbreitenden empirischen Schule von Philosophie gar keine Rede mehr
war. Mit den Träumereien und Phantasiespielen jener ausgearteten Natur-
phantasterei wurden auch die wahren und grossen Verdienste der alten Na-
turphilosophie vergessen, aus der jene hervorgegangen war, und man ge-
wöhnte sich sehr allgemein an die Vorstellung, dass Naturwissenschaft und
Philosophie in einem unversöhnlichen Gegensatze zu einander ständen.
Dieser Irrthum wurde dadurch insbesondere begünstigt, dass die verbesser-
ten Instrumente und Beobachtungs-Methoden der Neuzeit, und vor Allem
die sehr verbesserten Mikroskope, der empirischen Naturbeobachtung ein
unendlich weites Feld der Forschung eröffneten, auf welchem es ein Leichtes
war, mit wenig Mühe und ohne grosse Gedanken-Anstrengung, Entdeckungen
neuer Formverhältnisse in Hülle und Fülle zu machen. Während die Be-
obachtungen der ersten empirischen Periode, welche sich aus Linné’s
Schule entwickelte, vorzugsweise nur auf die äusseren Formenverhältnisse
der Organismen gerichtet gewesen waren, wandte sich nun die zweite
empirische Periode, welche aus Cuvier’s Schule hervorging, vorwiegend der
Beobachtung des inneren Baues der Thiere und Pflanzen zu. Und in der
That gab es hier, nachdem Cuvier durch Begründung der vergleichen-
den Anatomie und der Palaeontologie ein weites neues Feld der Beobachtung
geöffnet, nachdem Bär durch Reformation der Entwickelungsgeschichte
und Schwann durch Begründung der Gewebelehre auf dem thierischen,
Schleiden auf dem pflanzlichen Gebiete neue und grosse Ziele gesteckt,
nachdem Johannes Müller die gesammte Biologie mit gewaltiger Hand
in die neu geöffneten Bahnen der exacten Beobachtung hineingewiesen hatte,
überall so unendlich Viel zu beobachten und zu beschreiben, es wurde so
leicht, mit nur wenig Geduld, Fleiss und Beobachtungsgabe neue That-
sachen zu entdecken, dass wir uns nicht wundern können, wenn darüber
die leitenden Principien der Naturforschung gänzlich vernachlässigt und
die erklärende Gedanken-Arbeit von den meisten völlig vergessen wurde.
Da noch im gegenwärtigen Augenblick diese „rein empirische“ Richtung
die allgemein überwiegende ist, da die Bezeichnung der Naturphilosophie
noch in den weitesten naturwissenschaftlichen Kreisen nur als Schimpfwort
gilt und selbst von den hervorragendsten Biologen nur in diesem Sinne ge-
braucht wird, so haben wir nicht nöthig, die grenzenlose Einseitigkeit dieser
Richtung noch näher zu erläutern, und werden nur noch insofern näher
darauf eingehen, als wir gezwungen sind, unseren Zeitgenossen ihr „exact-
empirisches,“ d. h. gedankenloses und beschränktes Spiegelbild vorzuhalten.
Theilweise ist dies schon im vorigen Capitel geschehen. Wiederholt wollen wir
hier nur nochmals auf die seltsame Selbsttäuschung hinweisen, in welcher
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Haeckel, Erich: Generelle Morphologie der Organismen. Bd. 1. Berlin, 1866, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/haeckel_morphologie01_1866/109>, abgerufen am 24.11.2024.
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