Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.die das Verbrechen beging, nachforscht, ein außerordentlicher Unterschied. Der Gesellschaft freilich, so ist der Schluß der Gesetzgeber, kann dies einerlei seyn, sie sieht nur das, was sie empfindet; sie straft Alles, was ihr gefährlich und nachtheilig ist. Allein dieser Terrorismus des Staatslebens, und der bloßen politischen und Munizipalexistenz der Menschheit ist gerade das Widerspiel der Humanität und wird von ihren hochherzigen Bestrebungen bestritten. Die Strafe soll die Heilung nicht ausschließen, der Büttel nicht den Arzt verdrängen. Es soll wohl untersucht werden, aus welchen intellektuellen und moralischen Störungen das Verbrechen hervorging. Es soll bedacht werden: Hast du, Unglücklicher, den man auf der That ertappte, Plato gelesen? Hast du dich in den Grenzen des Guten und Schlechten mit klarem Bewußtseyn selbst zurechtfinden können? Wußtest du, wo das Eine aufhört und das Andre anfängt? Und wie bald wird man sich überzeugen können, daß die Mehrzahl der Verbrecher nicht aus positivem Laster, sondern nur aus negativer Tugend, nicht aus einem Ueberfluß an Bosheit, sondern aus einem Mangel an moralischer Kraft entstand! Was stählt allein die moralische Kraft? Was hindert uns, die wir im Parlamente sitzen, reden und schreiben, was hindert uns, daß wir stehlen und morden? Die Jntelligenz in allen Fällen und die moralische Kraft? Vielleicht auch sie; aber wer vermag sie in sich, wenn er sich die das Verbrechen beging, nachforscht, ein außerordentlicher Unterschied. Der Gesellschaft freilich, so ist der Schluß der Gesetzgeber, kann dies einerlei seyn, sie sieht nur das, was sie empfindet; sie straft Alles, was ihr gefährlich und nachtheilig ist. Allein dieser Terrorismus des Staatslebens, und der bloßen politischen und Munizipalexistenz der Menschheit ist gerade das Widerspiel der Humanität und wird von ihren hochherzigen Bestrebungen bestritten. Die Strafe soll die Heilung nicht ausschließen, der Büttel nicht den Arzt verdrängen. Es soll wohl untersucht werden, aus welchen intellektuellen und moralischen Störungen das Verbrechen hervorging. Es soll bedacht werden: Hast du, Unglücklicher, den man auf der That ertappte, Plato gelesen? Hast du dich in den Grenzen des Guten und Schlechten mit klarem Bewußtseyn selbst zurechtfinden können? Wußtest du, wo das Eine aufhört und das Andre anfängt? Und wie bald wird man sich überzeugen können, daß die Mehrzahl der Verbrecher nicht aus positivem Laster, sondern nur aus negativer Tugend, nicht aus einem Ueberfluß an Bosheit, sondern aus einem Mangel an moralischer Kraft entstand! Was stählt allein die moralische Kraft? Was hindert uns, die wir im Parlamente sitzen, reden und schreiben, was hindert uns, daß wir stehlen und morden? Die Jntelligenz in allen Fällen und die moralische Kraft? Vielleicht auch sie; aber wer vermag sie in sich, wenn er sich <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0098" n="96"/> die das Verbrechen beging, nachforscht, ein außerordentlicher Unterschied. Der Gesellschaft freilich, so ist der Schluß der Gesetzgeber, kann dies einerlei seyn, sie sieht nur das, was sie empfindet; sie straft Alles, was ihr gefährlich und nachtheilig ist. Allein dieser Terrorismus des <hi rendition="#g">Staatslebens</hi>, und der bloßen politischen und Munizipalexistenz der Menschheit ist gerade das Widerspiel der Humanität und wird von ihren hochherzigen Bestrebungen bestritten. Die Strafe soll die Heilung nicht ausschließen, der Büttel nicht den Arzt verdrängen. Es soll wohl untersucht werden, aus welchen intellektuellen und moralischen Störungen das Verbrechen hervorging. Es soll bedacht werden: Hast du, Unglücklicher, den man auf der That ertappte, <hi rendition="#g">Plato</hi> gelesen? Hast du dich in den Grenzen des Guten und Schlechten mit klarem Bewußtseyn selbst zurechtfinden können? Wußtest du, wo das Eine aufhört und das Andre anfängt? Und wie bald wird man sich überzeugen können, daß die Mehrzahl der Verbrecher nicht aus positivem Laster, sondern nur aus negativer Tugend, nicht aus einem Ueberfluß an Bosheit, sondern aus einem Mangel an moralischer Kraft entstand! Was stählt allein die moralische Kraft? Was hindert uns, die wir im Parlamente sitzen, reden und schreiben, was hindert uns, daß wir stehlen und morden? Die Jntelligenz in allen Fällen und die moralische Kraft? Vielleicht auch sie; aber wer vermag sie in sich, wenn er sich </p> </div> </body> </text> </TEI> [96/0098]
die das Verbrechen beging, nachforscht, ein außerordentlicher Unterschied. Der Gesellschaft freilich, so ist der Schluß der Gesetzgeber, kann dies einerlei seyn, sie sieht nur das, was sie empfindet; sie straft Alles, was ihr gefährlich und nachtheilig ist. Allein dieser Terrorismus des Staatslebens, und der bloßen politischen und Munizipalexistenz der Menschheit ist gerade das Widerspiel der Humanität und wird von ihren hochherzigen Bestrebungen bestritten. Die Strafe soll die Heilung nicht ausschließen, der Büttel nicht den Arzt verdrängen. Es soll wohl untersucht werden, aus welchen intellektuellen und moralischen Störungen das Verbrechen hervorging. Es soll bedacht werden: Hast du, Unglücklicher, den man auf der That ertappte, Plato gelesen? Hast du dich in den Grenzen des Guten und Schlechten mit klarem Bewußtseyn selbst zurechtfinden können? Wußtest du, wo das Eine aufhört und das Andre anfängt? Und wie bald wird man sich überzeugen können, daß die Mehrzahl der Verbrecher nicht aus positivem Laster, sondern nur aus negativer Tugend, nicht aus einem Ueberfluß an Bosheit, sondern aus einem Mangel an moralischer Kraft entstand! Was stählt allein die moralische Kraft? Was hindert uns, die wir im Parlamente sitzen, reden und schreiben, was hindert uns, daß wir stehlen und morden? Die Jntelligenz in allen Fällen und die moralische Kraft? Vielleicht auch sie; aber wer vermag sie in sich, wenn er sich
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/98>, abgerufen am 16.07.2024. |