Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.wenn er auf das Jnteresse ganzer Gemeinwesen gerichtet ist. Und daß Frankreich im Oriente etwas besizt, ist weder sein Zweck, als daß England oder Rußland nichts allein besitze. Die Ungerechtigkeit der Einen muß hier das Unrecht der Andern entschuldigen. Oder wo steht jenes Recht geschrieben, nach welchem sich seit etwa zwanzig Jahren in der europäischen Politik der fixe Gedanke gebildet hat, das türkische Reich wäre eine natürliche, nächstens vakante und zur allgemeinen Theilung kommende Erbverlassenschaft? - Die Wahrheit, welche in dem berühmten Ausspruche Montesquieus liegt: die Türken kampiren nur in Europa, hat etwas, das die allmälige Bildung jenes vermeintlichen Erbrechtes zu entschuldigen scheint. Ja, der Türke selbst unterhält durch Sitte und Vorurtheil diese zweideutige Vorstellung von dem Rechte, welches er durch seine Eroberung sich nur faktisch geschaffen hat. Er säet, und erntet nicht, er treibt sein bürgerliches Gewerbe nur wie zum Zeitvertreib. Er überläßt die Sorge für seine Existenz, Sklaven und Tributpflichtigen. Er baut kein Haus von Stein. Er lebt in Hütten und unter Zelten. Die europäische Türkei und Vorderasien waren von jeher Würfel des Zufalles, welche bald die heilige Drei Europas, bald die heilige Sieben des Orients zeigten. Genug, die Vorstellung, daß Frankreich, England, Rußland und Oesterreich sich für die Erben der Türkei halten, mag entstanden wenn er auf das Jnteresse ganzer Gemeinwesen gerichtet ist. Und daß Frankreich im Oriente etwas besizt, ist weder sein Zweck, als daß England oder Rußland nichts allein besitze. Die Ungerechtigkeit der Einen muß hier das Unrecht der Andern entschuldigen. Oder wo steht jenes Recht geschrieben, nach welchem sich seit etwa zwanzig Jahren in der europäischen Politik der fixe Gedanke gebildet hat, das türkische Reich wäre eine natürliche, nächstens vakante und zur allgemeinen Theilung kommende Erbverlassenschaft? – Die Wahrheit, welche in dem berühmten Ausspruche Montesquieus liegt: die Türken kampiren nur in Europa, hat etwas, das die allmälige Bildung jenes vermeintlichen Erbrechtes zu entschuldigen scheint. Ja, der Türke selbst unterhält durch Sitte und Vorurtheil diese zweideutige Vorstellung von dem Rechte, welches er durch seine Eroberung sich nur faktisch geschaffen hat. Er säet, und erntet nicht, er treibt sein bürgerliches Gewerbe nur wie zum Zeitvertreib. Er überläßt die Sorge für seine Existenz, Sklaven und Tributpflichtigen. Er baut kein Haus von Stein. Er lebt in Hütten und unter Zelten. Die europäische Türkei und Vorderasien waren von jeher Würfel des Zufalles, welche bald die heilige Drei Europas, bald die heilige Sieben des Orients zeigten. Genug, die Vorstellung, daß Frankreich, England, Rußland und Oesterreich sich für die Erben der Türkei halten, mag entstanden <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0424" n="422"/> wenn er auf das Jnteresse ganzer Gemeinwesen gerichtet ist. Und daß Frankreich im Oriente etwas besizt, ist weder sein Zweck, als daß England oder Rußland nichts <hi rendition="#g">allein</hi> besitze. Die Ungerechtigkeit der Einen muß hier das Unrecht der Andern entschuldigen. Oder wo steht jenes Recht geschrieben, nach welchem sich seit etwa zwanzig Jahren in der europäischen Politik der fixe Gedanke gebildet hat, das türkische Reich wäre eine natürliche, nächstens vakante und zur allgemeinen Theilung kommende Erbverlassenschaft? – Die Wahrheit, welche in dem berühmten Ausspruche <hi rendition="#g">Montesquieus</hi> liegt: die Türken <hi rendition="#g">kampiren</hi> nur in Europa, hat etwas, das die allmälige Bildung jenes vermeintlichen Erbrechtes zu entschuldigen scheint. Ja, der Türke selbst unterhält durch Sitte und Vorurtheil diese zweideutige Vorstellung von dem Rechte, welches er durch seine Eroberung sich nur faktisch geschaffen hat. Er säet, und erntet nicht, er treibt sein bürgerliches Gewerbe nur wie zum Zeitvertreib. Er überläßt die Sorge für seine Existenz, Sklaven und Tributpflichtigen. Er baut kein Haus von Stein. Er lebt in Hütten und unter Zelten. Die europäische Türkei und Vorderasien waren von jeher Würfel des Zufalles, welche bald die heilige Drei Europas, bald die heilige Sieben des Orients zeigten. Genug, die Vorstellung, daß Frankreich, England, Rußland und Oesterreich sich für die Erben der Türkei halten, mag entstanden </p> </div> </body> </text> </TEI> [422/0424]
wenn er auf das Jnteresse ganzer Gemeinwesen gerichtet ist. Und daß Frankreich im Oriente etwas besizt, ist weder sein Zweck, als daß England oder Rußland nichts allein besitze. Die Ungerechtigkeit der Einen muß hier das Unrecht der Andern entschuldigen. Oder wo steht jenes Recht geschrieben, nach welchem sich seit etwa zwanzig Jahren in der europäischen Politik der fixe Gedanke gebildet hat, das türkische Reich wäre eine natürliche, nächstens vakante und zur allgemeinen Theilung kommende Erbverlassenschaft? – Die Wahrheit, welche in dem berühmten Ausspruche Montesquieus liegt: die Türken kampiren nur in Europa, hat etwas, das die allmälige Bildung jenes vermeintlichen Erbrechtes zu entschuldigen scheint. Ja, der Türke selbst unterhält durch Sitte und Vorurtheil diese zweideutige Vorstellung von dem Rechte, welches er durch seine Eroberung sich nur faktisch geschaffen hat. Er säet, und erntet nicht, er treibt sein bürgerliches Gewerbe nur wie zum Zeitvertreib. Er überläßt die Sorge für seine Existenz, Sklaven und Tributpflichtigen. Er baut kein Haus von Stein. Er lebt in Hütten und unter Zelten. Die europäische Türkei und Vorderasien waren von jeher Würfel des Zufalles, welche bald die heilige Drei Europas, bald die heilige Sieben des Orients zeigten. Genug, die Vorstellung, daß Frankreich, England, Rußland und Oesterreich sich für die Erben der Türkei halten, mag entstanden
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