Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.sich der Denk- und Handlungsweise seiner ungebildeten Stammgenossen; Unterricht und Erziehung haben ihn ja längst uns gleichgestellt. Die Juden lesen aus den Zeitungen, der Literatur und Kunst Dasselbe, was wir lesen; ihnen ist Napoleon und O'Connel, der Fall des Niagara und eine Eisenbahn Dasselbe, was sie den Christen ist; sie sprechen unsre Sprache und halten meist nur äußerlich an die Ceremonien eines Glaubens, dessen Reformation ja fast dem deistischen Jnhalt gleichkommt, der dem religiösen Bewußtseyn der Unsrigen entspricht. So sind sie längst die Unsern und streben darnach, mit uns sich zu vermischen. Und so muß hier gerade das Wort Christi, daß die Juden bis in alle Ewigkeit in der Jrre gehen würden und sie auf dem ganzen Erdboden zerstreut bleiben sollten, erst recht in Erfüllung gehen. Fromme, christliche Seelen fürchten nämlich, durch die Emanzipation möchte diese Prophezeiung Christi auf freventliche Weise widerlegt werden; aber gerade die Emanzipation würde die Juden erst recht aus einander treiben, nach allen Weltgegenden hin zerstreuen und den Fluch erfüllen, den Christus darin sah, daß sie in Ewigkeit aufhören sollten, ein Volk zu seyn. Christus gab die Prophezeiung von dem jüdischen Gesichtspunkte, nach welchem den Juden gerade nichts Schrecklicheres widerfahren konnte, als kein eigenes Volk mehr zu seyn. Freilich haben die sich der Denk- und Handlungsweise seiner ungebildeten Stammgenossen; Unterricht und Erziehung haben ihn ja längst uns gleichgestellt. Die Juden lesen aus den Zeitungen, der Literatur und Kunst Dasselbe, was wir lesen; ihnen ist Napoleon und O’Connel, der Fall des Niagara und eine Eisenbahn Dasselbe, was sie den Christen ist; sie sprechen unsre Sprache und halten meist nur äußerlich an die Ceremonien eines Glaubens, dessen Reformation ja fast dem deistischen Jnhalt gleichkommt, der dem religiösen Bewußtseyn der Unsrigen entspricht. So sind sie längst die Unsern und streben darnach, mit uns sich zu vermischen. Und so muß hier gerade das Wort Christi, daß die Juden bis in alle Ewigkeit in der Jrre gehen würden und sie auf dem ganzen Erdboden zerstreut bleiben sollten, erst recht in Erfüllung gehen. Fromme, christliche Seelen fürchten nämlich, durch die Emanzipation möchte diese Prophezeiung Christi auf freventliche Weise widerlegt werden; aber gerade die Emanzipation würde die Juden erst recht aus einander treiben, nach allen Weltgegenden hin zerstreuen und den Fluch erfüllen, den Christus darin sah, daß sie in Ewigkeit aufhören sollten, ein Volk zu seyn. Christus gab die Prophezeiung von dem jüdischen Gesichtspunkte, nach welchem den Juden gerade nichts Schrecklicheres widerfahren konnte, als kein eigenes Volk mehr zu seyn. Freilich haben die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0236" n="234"/> sich der Denk- und Handlungsweise seiner ungebildeten Stammgenossen; Unterricht und Erziehung haben ihn ja längst uns gleichgestellt. Die Juden lesen aus den Zeitungen, der Literatur und Kunst Dasselbe, was wir lesen; ihnen ist <hi rendition="#g">Napoleon</hi> und <hi rendition="#g">O’Connel</hi>, der Fall des <hi rendition="#g">Niagara</hi> und eine Eisenbahn Dasselbe, was sie den Christen ist; sie sprechen unsre Sprache und halten meist nur äußerlich an die Ceremonien eines Glaubens, dessen Reformation ja fast dem deistischen Jnhalt gleichkommt, der dem religiösen Bewußtseyn der Unsrigen entspricht. So sind sie längst die Unsern und streben darnach, mit uns sich zu vermischen. Und so muß hier gerade das Wort <hi rendition="#g">Christi</hi>, daß die Juden bis in alle Ewigkeit in der Jrre gehen würden und sie auf dem ganzen Erdboden zerstreut bleiben sollten, erst recht in Erfüllung gehen. Fromme, christliche Seelen fürchten nämlich, durch die Emanzipation möchte diese Prophezeiung <hi rendition="#g">Christi</hi> auf freventliche Weise widerlegt werden; aber gerade die Emanzipation würde die Juden erst recht aus einander treiben, nach allen Weltgegenden hin zerstreuen und den Fluch erfüllen, den <hi rendition="#g">Christus</hi> darin sah, daß sie in Ewigkeit aufhören sollten, <hi rendition="#g">ein</hi> Volk zu seyn. <hi rendition="#g">Christus</hi> gab die Prophezeiung von dem jüdischen Gesichtspunkte, nach welchem den Juden gerade nichts Schrecklicheres widerfahren konnte, als kein eigenes Volk mehr zu seyn. Freilich haben die </p> </div> </body> </text> </TEI> [234/0236]
sich der Denk- und Handlungsweise seiner ungebildeten Stammgenossen; Unterricht und Erziehung haben ihn ja längst uns gleichgestellt. Die Juden lesen aus den Zeitungen, der Literatur und Kunst Dasselbe, was wir lesen; ihnen ist Napoleon und O’Connel, der Fall des Niagara und eine Eisenbahn Dasselbe, was sie den Christen ist; sie sprechen unsre Sprache und halten meist nur äußerlich an die Ceremonien eines Glaubens, dessen Reformation ja fast dem deistischen Jnhalt gleichkommt, der dem religiösen Bewußtseyn der Unsrigen entspricht. So sind sie längst die Unsern und streben darnach, mit uns sich zu vermischen. Und so muß hier gerade das Wort Christi, daß die Juden bis in alle Ewigkeit in der Jrre gehen würden und sie auf dem ganzen Erdboden zerstreut bleiben sollten, erst recht in Erfüllung gehen. Fromme, christliche Seelen fürchten nämlich, durch die Emanzipation möchte diese Prophezeiung Christi auf freventliche Weise widerlegt werden; aber gerade die Emanzipation würde die Juden erst recht aus einander treiben, nach allen Weltgegenden hin zerstreuen und den Fluch erfüllen, den Christus darin sah, daß sie in Ewigkeit aufhören sollten, ein Volk zu seyn. Christus gab die Prophezeiung von dem jüdischen Gesichtspunkte, nach welchem den Juden gerade nichts Schrecklicheres widerfahren konnte, als kein eigenes Volk mehr zu seyn. Freilich haben die
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/236>, abgerufen am 27.07.2024. |