Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.1) Die evangelische Geschichte ist nicht als reinhistorische Urkunde geschrieben worden, als die Chronik eines den wunderbaren Ereignissen parallel lebenden Autors, sondern 2) sie wurde geschrieben aus der Erinnerung einer schon ziemlich entlegenen Zeit; 3) sie wurde nicht als eine Lebensgeschichte des Heilands verfaßt, sondern als die historische Entwicklung eines Glaubens, der in dem Momente, als der Schriftsteller schrieb, schon gepredigt wurde, hie und da Fuß gefaßt hatte, und sich in seinem Kreise zu runden anfing. 4) Die evangelische Geschichte verbindet mit dem Historischen schon einen aszetischen und einen apologetischen Zweck. Sie will den Gläubigen und Ungläubigen Rechenschaft ablegen über ein Ereigniß, das bei dem Anspruche, überall gepredigt zu werden, nicht wunderbar genug dargestellt seyn konnte. 5) Es hatte sich bereits über das Leben Jesu die Reflexion verbreitet; denn Christus selbst hatte nicht so gelebt, daß er sich in die jüdischen Messiasbegriffe und die Citate aus dem alten Testamente so vertieft hätte, wie die Evangelisten diese typischen Beziehungen nicht bloß als den in ihrer Bildung liegenden Pragmatismus ihres Gegenstands benuzten, sondern sogar Erlebnisse des Heilands daran akkomodirten, um namentlich die Juden zu überzeugen, daß Christus der wahre Sohn Gottes gewesen. 6) Jn einer Zeit, wo die Bildung noch nicht durch jene zahllose Masse von Büchern, in die sie jezt verschlossen ist, in ihren einzelnen Momenten aus 1) Die evangelische Geschichte ist nicht als reinhistorische Urkunde geschrieben worden, als die Chronik eines den wunderbaren Ereignissen parallel lebenden Autors, sondern 2) sie wurde geschrieben aus der Erinnerung einer schon ziemlich entlegenen Zeit; 3) sie wurde nicht als eine Lebensgeschichte des Heilands verfaßt, sondern als die historische Entwicklung eines Glaubens, der in dem Momente, als der Schriftsteller schrieb, schon gepredigt wurde, hie und da Fuß gefaßt hatte, und sich in seinem Kreise zu runden anfing. 4) Die evangelische Geschichte verbindet mit dem Historischen schon einen aszetischen und einen apologetischen Zweck. Sie will den Gläubigen und Ungläubigen Rechenschaft ablegen über ein Ereigniß, das bei dem Anspruche, überall gepredigt zu werden, nicht wunderbar genug dargestellt seyn konnte. 5) Es hatte sich bereits über das Leben Jesu die Reflexion verbreitet; denn Christus selbst hatte nicht so gelebt, daß er sich in die jüdischen Messiasbegriffe und die Citate aus dem alten Testamente so vertieft hätte, wie die Evangelisten diese typischen Beziehungen nicht bloß als den in ihrer Bildung liegenden Pragmatismus ihres Gegenstands benuzten, sondern sogar Erlebnisse des Heilands daran akkomodirten, um namentlich die Juden zu überzeugen, daß Christus der wahre Sohn Gottes gewesen. 6) Jn einer Zeit, wo die Bildung noch nicht durch jene zahllose Masse von Büchern, in die sie jezt verschlossen ist, in ihren einzelnen Momenten aus <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0172" n="170"/> <p> 1) Die evangelische Geschichte ist nicht als reinhistorische Urkunde geschrieben worden, als die Chronik eines den wunderbaren Ereignissen parallel lebenden Autors, sondern 2) sie wurde geschrieben aus der Erinnerung einer schon ziemlich entlegenen Zeit; 3) sie wurde nicht als eine Lebensgeschichte des Heilands verfaßt, sondern als die historische Entwicklung eines Glaubens, der in dem Momente, als der Schriftsteller schrieb, schon gepredigt wurde, hie und da Fuß gefaßt hatte, und sich in seinem Kreise zu runden anfing. 4) Die evangelische Geschichte verbindet mit dem Historischen schon einen aszetischen und einen apologetischen Zweck. Sie will den Gläubigen und Ungläubigen Rechenschaft ablegen über ein Ereigniß, das bei dem Anspruche, überall gepredigt zu werden, nicht wunderbar genug dargestellt seyn konnte. 5) Es hatte sich bereits über das Leben Jesu die Reflexion verbreitet; denn Christus selbst hatte nicht so gelebt, daß er sich in die jüdischen Messiasbegriffe und die Citate aus dem alten Testamente so vertieft hätte, wie die Evangelisten diese typischen Beziehungen nicht bloß als den in ihrer Bildung liegenden Pragmatismus ihres Gegenstands benuzten, sondern sogar Erlebnisse des Heilands daran akkomodirten, um namentlich die Juden zu überzeugen, daß <hi rendition="#g">Christus</hi> der wahre Sohn Gottes gewesen. 6) Jn einer Zeit, wo die Bildung noch nicht durch jene zahllose Masse von Büchern, in die sie jezt verschlossen ist, in ihren einzelnen Momenten aus </p> </div> </body> </text> </TEI> [170/0172]
1) Die evangelische Geschichte ist nicht als reinhistorische Urkunde geschrieben worden, als die Chronik eines den wunderbaren Ereignissen parallel lebenden Autors, sondern 2) sie wurde geschrieben aus der Erinnerung einer schon ziemlich entlegenen Zeit; 3) sie wurde nicht als eine Lebensgeschichte des Heilands verfaßt, sondern als die historische Entwicklung eines Glaubens, der in dem Momente, als der Schriftsteller schrieb, schon gepredigt wurde, hie und da Fuß gefaßt hatte, und sich in seinem Kreise zu runden anfing. 4) Die evangelische Geschichte verbindet mit dem Historischen schon einen aszetischen und einen apologetischen Zweck. Sie will den Gläubigen und Ungläubigen Rechenschaft ablegen über ein Ereigniß, das bei dem Anspruche, überall gepredigt zu werden, nicht wunderbar genug dargestellt seyn konnte. 5) Es hatte sich bereits über das Leben Jesu die Reflexion verbreitet; denn Christus selbst hatte nicht so gelebt, daß er sich in die jüdischen Messiasbegriffe und die Citate aus dem alten Testamente so vertieft hätte, wie die Evangelisten diese typischen Beziehungen nicht bloß als den in ihrer Bildung liegenden Pragmatismus ihres Gegenstands benuzten, sondern sogar Erlebnisse des Heilands daran akkomodirten, um namentlich die Juden zu überzeugen, daß Christus der wahre Sohn Gottes gewesen. 6) Jn einer Zeit, wo die Bildung noch nicht durch jene zahllose Masse von Büchern, in die sie jezt verschlossen ist, in ihren einzelnen Momenten aus
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 2. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 170. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen02_1842/172>, abgerufen am 27.07.2024. |