Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.allerdings in Gestalt eines Romanes lösen zu können glauben; allein dann würde dieser Roman nur eine Allegorie und beinahe ein Lehrgedicht werden; denn was dort von einigen Personen gesagt wäre, würde mehr oder weniger auf alle passen. Alle Verliebungen lassen sich unter zwei Rubriken bringen. Entweder entspringen sie aus einer unmittelbaren Fortsetzung des obigen Gefühls, das anfängt, sich erst in sein eignes Geschlecht zu verlieben oder aus einem Calcul. Es ist auffallend, daß jene ersten Verhältnisse der Sinnlichkeit doch näher stehen, als die aus Berechnung entstandenen, und daß sie doch für moralischer gehalten werden, als diese. Es findet bei den erstern wenig Wahl Statt, der einzelne Mann vertritt das ganze Geschlecht; die Verbindung ist geschlossen, noch ehe vielleicht Geständnisse abgegeben sind. Eine vague Tradition über Liebe liegt natürlich den Empfindungen des Mädchens unter, allein sie verwandelt sich nicht in ein Urtheil, in eine Vergleichung, sondern nur in das Gefühl, dereinst eine Verpflichtung haben zu müssen. Die Tradition der amoureusen Liebe spricht sich hier nur in dem Bewußtseyn aus, daß man Diesen oder Jenen gern hat, ein Ausdruck, der oft unter Mädchen gehört wird, der aber selten eine Prüfung, Berechnung und unglückliche Leidenschaft ausdrückt, sondern weit öfter einen Zufall, ein Gespräch, irgend etwas, was für die Gründe, eine Neigung anzuknüpfen, völlig unwesentlich ist. Man begreift oft nicht, wie es dieser allerdings in Gestalt eines Romanes lösen zu können glauben; allein dann würde dieser Roman nur eine Allegorie und beinahe ein Lehrgedicht werden; denn was dort von einigen Personen gesagt wäre, würde mehr oder weniger auf alle passen. Alle Verliebungen lassen sich unter zwei Rubriken bringen. Entweder entspringen sie aus einer unmittelbaren Fortsetzung des obigen Gefühls, das anfängt, sich erst in sein eignes Geschlecht zu verlieben oder aus einem Calcul. Es ist auffallend, daß jene ersten Verhältnisse der Sinnlichkeit doch näher stehen, als die aus Berechnung entstandenen, und daß sie doch für moralischer gehalten werden, als diese. Es findet bei den erstern wenig Wahl Statt, der einzelne Mann vertritt das ganze Geschlecht; die Verbindung ist geschlossen, noch ehe vielleicht Geständnisse abgegeben sind. Eine vague Tradition über Liebe liegt natürlich den Empfindungen des Mädchens unter, allein sie verwandelt sich nicht in ein Urtheil, in eine Vergleichung, sondern nur in das Gefühl, dereinst eine Verpflichtung haben zu müssen. Die Tradition der amoureusen Liebe spricht sich hier nur in dem Bewußtseyn aus, daß man Diesen oder Jenen gern hat, ein Ausdruck, der oft unter Mädchen gehört wird, der aber selten eine Prüfung, Berechnung und unglückliche Leidenschaft ausdrückt, sondern weit öfter einen Zufall, ein Gespräch, irgend etwas, was für die Gründe, eine Neigung anzuknüpfen, völlig unwesentlich ist. Man begreift oft nicht, wie es dieser <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0074" n="46"/> allerdings in Gestalt eines Romanes lösen zu können glauben; allein dann würde dieser Roman nur eine Allegorie und beinahe ein Lehrgedicht werden; denn was dort von einigen Personen gesagt wäre, würde mehr oder weniger auf alle passen.</p> <p>Alle Verliebungen lassen sich unter zwei Rubriken bringen. Entweder entspringen sie aus einer unmittelbaren Fortsetzung des obigen Gefühls, das anfängt, sich erst in sein eignes Geschlecht zu verlieben oder aus einem Calcul. Es ist auffallend, daß jene ersten Verhältnisse der Sinnlichkeit doch näher stehen, als die aus Berechnung entstandenen, und daß sie doch für moralischer gehalten werden, als diese. Es findet bei den erstern wenig Wahl Statt, der einzelne Mann vertritt das ganze Geschlecht; die Verbindung ist geschlossen, noch ehe vielleicht Geständnisse abgegeben sind. Eine vague Tradition über Liebe liegt natürlich den Empfindungen des Mädchens unter, allein sie verwandelt sich nicht in ein Urtheil, in eine Vergleichung, sondern nur in das Gefühl, dereinst eine Verpflichtung haben zu müssen. Die Tradition der amoureusen Liebe spricht sich hier nur in dem Bewußtseyn aus, daß man Diesen oder Jenen <hi rendition="#g">gern hat</hi>, ein Ausdruck, der oft unter Mädchen gehört wird, der aber selten eine Prüfung, Berechnung und unglückliche Leidenschaft ausdrückt, sondern weit öfter einen Zufall, ein Gespräch, irgend etwas, was für die Gründe, eine Neigung anzuknüpfen, völlig unwesentlich ist. Man begreift oft nicht, wie es dieser </p> </div> </body> </text> </TEI> [46/0074]
allerdings in Gestalt eines Romanes lösen zu können glauben; allein dann würde dieser Roman nur eine Allegorie und beinahe ein Lehrgedicht werden; denn was dort von einigen Personen gesagt wäre, würde mehr oder weniger auf alle passen.
Alle Verliebungen lassen sich unter zwei Rubriken bringen. Entweder entspringen sie aus einer unmittelbaren Fortsetzung des obigen Gefühls, das anfängt, sich erst in sein eignes Geschlecht zu verlieben oder aus einem Calcul. Es ist auffallend, daß jene ersten Verhältnisse der Sinnlichkeit doch näher stehen, als die aus Berechnung entstandenen, und daß sie doch für moralischer gehalten werden, als diese. Es findet bei den erstern wenig Wahl Statt, der einzelne Mann vertritt das ganze Geschlecht; die Verbindung ist geschlossen, noch ehe vielleicht Geständnisse abgegeben sind. Eine vague Tradition über Liebe liegt natürlich den Empfindungen des Mädchens unter, allein sie verwandelt sich nicht in ein Urtheil, in eine Vergleichung, sondern nur in das Gefühl, dereinst eine Verpflichtung haben zu müssen. Die Tradition der amoureusen Liebe spricht sich hier nur in dem Bewußtseyn aus, daß man Diesen oder Jenen gern hat, ein Ausdruck, der oft unter Mädchen gehört wird, der aber selten eine Prüfung, Berechnung und unglückliche Leidenschaft ausdrückt, sondern weit öfter einen Zufall, ein Gespräch, irgend etwas, was für die Gründe, eine Neigung anzuknüpfen, völlig unwesentlich ist. Man begreift oft nicht, wie es dieser
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/74 |
Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/74>, abgerufen am 27.07.2024. |