Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.Das Mittelalter zeigte uns physische Pönitenzen, wo das Blut über den Rücken der Gegeißelten lief, ohne daß sie anders als willkommene Gefühle davon hatten. Etwas Aehnliches trägt sich in der modernen moralischen Welt zu. Denn daß es so viel Männer gibt, welche den Umgang des Weibes zuerst in illegitimer Form verschmähen, ist nicht überall die Folge jungfräulicher Schaam und keuscher Sittenreinheit, sondern nur zu oft die Folge einer Jndolenz, die das physische und geistige Leben wie Blei niederdrückt und in unserer Zeit Blases erzeugt, die nicht einmal die Dinge satt hatten, sondern Blases, die sie noch gar nicht kosteten. Kann es eine größere Unnatur geben? Jch habe hier einen Blick in die Nachtseite unsrer gegenwärtigen Existenz eröffnet, und Verhältnisse angedeutet, die von wahrhaft zeitgemäßen, oder wie man zu sagen pflegt, modernen Dichtern auf die glücklichste Weise benutzt werden könnten. Wo alle diese Umstände nun schon vorangingen, da wird zuletzt das ökonomische Verhältniß das entscheidende. Die heutige Existenz ist eine schwere Aufgabe. Mit den Bedürfnissen, die sich täglich steigerten, steigerte sich auch der Drang, Mittel zu erwerben, um sie zu befriedigen. Wohin früher nur zehen Arme langten, darnach langen jetzt tausend. Die Conkurrenz hat alle Gewinnste in ihren Prozenten verringert: man muß mit dem Nachbar theilen, ohne es zu wollen. Ein agrarisches Gesetz ist da, ohne daß es Einer gegeben hätte. Das Mittelalter zeigte uns physische Pönitenzen, wo das Blut über den Rücken der Gegeißelten lief, ohne daß sie anders als willkommene Gefühle davon hatten. Etwas Aehnliches trägt sich in der modernen moralischen Welt zu. Denn daß es so viel Männer gibt, welche den Umgang des Weibes zuerst in illegitimer Form verschmähen, ist nicht überall die Folge jungfräulicher Schaam und keuscher Sittenreinheit, sondern nur zu oft die Folge einer Jndolenz, die das physische und geistige Leben wie Blei niederdrückt und in unserer Zeit Blasés erzeugt, die nicht einmal die Dinge satt hatten, sondern Blasés, die sie noch gar nicht kosteten. Kann es eine größere Unnatur geben? Jch habe hier einen Blick in die Nachtseite unsrer gegenwärtigen Existenz eröffnet, und Verhältnisse angedeutet, die von wahrhaft zeitgemäßen, oder wie man zu sagen pflegt, modernen Dichtern auf die glücklichste Weise benutzt werden könnten. Wo alle diese Umstände nun schon vorangingen, da wird zuletzt das ökonomische Verhältniß das entscheidende. Die heutige Existenz ist eine schwere Aufgabe. Mit den Bedürfnissen, die sich täglich steigerten, steigerte sich auch der Drang, Mittel zu erwerben, um sie zu befriedigen. Wohin früher nur zehen Arme langten, darnach langen jetzt tausend. Die Conkurrenz hat alle Gewinnste in ihren Prozenten verringert: man muß mit dem Nachbar theilen, ohne es zu wollen. Ein agrarisches Gesetz ist da, ohne daß es Einer gegeben hätte. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0063" n="35"/> Das Mittelalter zeigte uns physische Pönitenzen, wo das Blut über den Rücken der Gegeißelten lief, ohne daß sie anders als willkommene Gefühle davon hatten. Etwas Aehnliches trägt sich in der modernen moralischen Welt zu. Denn daß es so viel Männer gibt, welche den Umgang des Weibes zuerst in illegitimer Form verschmähen, ist nicht überall die Folge jungfräulicher Schaam und keuscher Sittenreinheit, sondern nur zu oft die Folge einer Jndolenz, die das physische und geistige Leben wie Blei niederdrückt und in unserer Zeit Blasés erzeugt, die nicht einmal die Dinge satt hatten, sondern Blasés, die sie noch gar nicht kosteten. Kann es eine größere Unnatur geben? Jch habe hier einen Blick in die Nachtseite unsrer gegenwärtigen Existenz eröffnet, und Verhältnisse angedeutet, die von wahrhaft zeitgemäßen, oder wie man zu sagen pflegt, modernen Dichtern auf die glücklichste Weise benutzt werden könnten.</p> <p>Wo alle diese Umstände nun schon vorangingen, da wird zuletzt das ökonomische Verhältniß das entscheidende. Die heutige Existenz ist eine schwere Aufgabe. Mit den Bedürfnissen, die sich täglich steigerten, steigerte sich auch der Drang, Mittel zu erwerben, um sie zu befriedigen. Wohin früher nur zehen Arme langten, darnach langen jetzt tausend. Die Conkurrenz hat alle Gewinnste in ihren Prozenten verringert: man muß mit dem Nachbar theilen, ohne es zu wollen. Ein agrarisches Gesetz ist da, ohne daß es Einer gegeben hätte. </p> </div> </body> </text> </TEI> [35/0063]
Das Mittelalter zeigte uns physische Pönitenzen, wo das Blut über den Rücken der Gegeißelten lief, ohne daß sie anders als willkommene Gefühle davon hatten. Etwas Aehnliches trägt sich in der modernen moralischen Welt zu. Denn daß es so viel Männer gibt, welche den Umgang des Weibes zuerst in illegitimer Form verschmähen, ist nicht überall die Folge jungfräulicher Schaam und keuscher Sittenreinheit, sondern nur zu oft die Folge einer Jndolenz, die das physische und geistige Leben wie Blei niederdrückt und in unserer Zeit Blasés erzeugt, die nicht einmal die Dinge satt hatten, sondern Blasés, die sie noch gar nicht kosteten. Kann es eine größere Unnatur geben? Jch habe hier einen Blick in die Nachtseite unsrer gegenwärtigen Existenz eröffnet, und Verhältnisse angedeutet, die von wahrhaft zeitgemäßen, oder wie man zu sagen pflegt, modernen Dichtern auf die glücklichste Weise benutzt werden könnten.
Wo alle diese Umstände nun schon vorangingen, da wird zuletzt das ökonomische Verhältniß das entscheidende. Die heutige Existenz ist eine schwere Aufgabe. Mit den Bedürfnissen, die sich täglich steigerten, steigerte sich auch der Drang, Mittel zu erwerben, um sie zu befriedigen. Wohin früher nur zehen Arme langten, darnach langen jetzt tausend. Die Conkurrenz hat alle Gewinnste in ihren Prozenten verringert: man muß mit dem Nachbar theilen, ohne es zu wollen. Ein agrarisches Gesetz ist da, ohne daß es Einer gegeben hätte.
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/63>, abgerufen am 27.07.2024. |