Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.

Bild:
<< vorherige Seite

die Verpflichtung hatte, für ihre moralische Ausbildung Sorge zu tragen. Dabei war der Egoismus meines Bruders doch sehr rührend für mich, denn bei dem Vorhaben, nur seinem Körper leben zu wollen, gönnte er sich nicht die geringste Erholung. An nichts hatte er sonst Lust und Freude. Von jedem Comfort war er entblößt; er saß auf harten Schemeln, schlief, trotz seines schwächlichen Körpers, nur auf Matrazen; er trank nie Kaffee oder Wein; damit nannte er sich einen Mann des Jahrhunderts, einen indischen Gymnosophisten, einen Johannes in der Wüste, der dem neuen Evangelium des Wassers vorangegangen wäre. Könnten wir zu Hause bei uns eine hinreichende Anzahl Heuschrecken auftreiben, ich glaube, mein Bruder würde in der Tollheit seiner Entsagungsphilosophie daraus seine tägliche Nahrung machen.

Da ich nun wohl sah, daß der unglückliche Glückliche zu allem schwieg, was seine Wasserkuren nicht betraf, ging ich von ihm, ohne jedoch einen Schwall von Vorwürfen zu unterdrücken, die er verdient hatte, denn unerhört ist es, sich zehn Jahre lang nicht zu sehn und sich dann so wieder zu begegnen. Meine Schwester war in den unverantwortlichsten Leichtsinn versunken, mein Bruder in eine Thorheit, von welcher man zu meinen Zeiten nicht die Ahnung gehabt hätte. Bab traf ich endlich mit ihren Töchtern zugänglich. Sie hatten alle die Migräne und nahmen, um die Folge des gestrigen Balles zu überwinden, hinter einander Pillen ein. Meine

die Verpflichtung hatte, für ihre moralische Ausbildung Sorge zu tragen. Dabei war der Egoismus meines Bruders doch sehr rührend für mich, denn bei dem Vorhaben, nur seinem Körper leben zu wollen, gönnte er sich nicht die geringste Erholung. An nichts hatte er sonst Lust und Freude. Von jedem Comfort war er entblößt; er saß auf harten Schemeln, schlief, trotz seines schwächlichen Körpers, nur auf Matrazen; er trank nie Kaffee oder Wein; damit nannte er sich einen Mann des Jahrhunderts, einen indischen Gymnosophisten, einen Johannes in der Wüste, der dem neuen Evangelium des Wassers vorangegangen wäre. Könnten wir zu Hause bei uns eine hinreichende Anzahl Heuschrecken auftreiben, ich glaube, mein Bruder würde in der Tollheit seiner Entsagungsphilosophie daraus seine tägliche Nahrung machen.

Da ich nun wohl sah, daß der unglückliche Glückliche zu allem schwieg, was seine Wasserkuren nicht betraf, ging ich von ihm, ohne jedoch einen Schwall von Vorwürfen zu unterdrücken, die er verdient hatte, denn unerhört ist es, sich zehn Jahre lang nicht zu sehn und sich dann so wieder zu begegnen. Meine Schwester war in den unverantwortlichsten Leichtsinn versunken, mein Bruder in eine Thorheit, von welcher man zu meinen Zeiten nicht die Ahnung gehabt hätte. Bab traf ich endlich mit ihren Töchtern zugänglich. Sie hatten alle die Migräne und nahmen, um die Folge des gestrigen Balles zu überwinden, hinter einander Pillen ein. Meine

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0481" n="453"/>
die Verpflichtung hatte, für ihre moralische Ausbildung Sorge zu tragen. Dabei war der Egoismus meines Bruders doch sehr rührend für mich, denn bei dem Vorhaben, nur seinem Körper leben zu wollen, gönnte er sich nicht die geringste Erholung. An nichts hatte er sonst Lust und Freude. Von jedem Comfort war er entblößt; er saß auf harten Schemeln, schlief, trotz seines schwächlichen Körpers, nur auf Matrazen; er trank nie Kaffee oder Wein; damit nannte er sich einen Mann des Jahrhunderts, einen indischen Gymnosophisten, einen Johannes in der Wüste, der dem neuen Evangelium des Wassers vorangegangen wäre. Könnten wir zu Hause bei uns eine hinreichende Anzahl Heuschrecken auftreiben, ich glaube, mein Bruder würde in der Tollheit seiner Entsagungsphilosophie daraus seine tägliche Nahrung machen.</p>
        <p>Da ich nun wohl sah, daß der unglückliche Glückliche zu allem schwieg, was seine Wasserkuren nicht betraf, ging ich von ihm, ohne jedoch einen Schwall von Vorwürfen zu unterdrücken, die er verdient hatte, denn unerhört ist es, sich zehn Jahre lang nicht zu sehn und sich dann so wieder zu begegnen. Meine Schwester war in den unverantwortlichsten Leichtsinn versunken, mein Bruder in eine Thorheit, von welcher man zu meinen Zeiten nicht die Ahnung gehabt hätte. Bab traf ich endlich mit ihren Töchtern zugänglich. Sie hatten alle die Migräne und nahmen, um die Folge des gestrigen Balles zu überwinden, hinter einander Pillen ein. Meine
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[453/0481] die Verpflichtung hatte, für ihre moralische Ausbildung Sorge zu tragen. Dabei war der Egoismus meines Bruders doch sehr rührend für mich, denn bei dem Vorhaben, nur seinem Körper leben zu wollen, gönnte er sich nicht die geringste Erholung. An nichts hatte er sonst Lust und Freude. Von jedem Comfort war er entblößt; er saß auf harten Schemeln, schlief, trotz seines schwächlichen Körpers, nur auf Matrazen; er trank nie Kaffee oder Wein; damit nannte er sich einen Mann des Jahrhunderts, einen indischen Gymnosophisten, einen Johannes in der Wüste, der dem neuen Evangelium des Wassers vorangegangen wäre. Könnten wir zu Hause bei uns eine hinreichende Anzahl Heuschrecken auftreiben, ich glaube, mein Bruder würde in der Tollheit seiner Entsagungsphilosophie daraus seine tägliche Nahrung machen. Da ich nun wohl sah, daß der unglückliche Glückliche zu allem schwieg, was seine Wasserkuren nicht betraf, ging ich von ihm, ohne jedoch einen Schwall von Vorwürfen zu unterdrücken, die er verdient hatte, denn unerhört ist es, sich zehn Jahre lang nicht zu sehn und sich dann so wieder zu begegnen. Meine Schwester war in den unverantwortlichsten Leichtsinn versunken, mein Bruder in eine Thorheit, von welcher man zu meinen Zeiten nicht die Ahnung gehabt hätte. Bab traf ich endlich mit ihren Töchtern zugänglich. Sie hatten alle die Migräne und nahmen, um die Folge des gestrigen Balles zu überwinden, hinter einander Pillen ein. Meine

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Gutzkow Editionsprojekt: Bereitstellung der Texttranskription. (2013-09-13T12:39:16Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Frederike Neuber: Bearbeitung der digitalen Edition. (2013-09-13T12:39:16Z)
Google Books: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2013-09-13T12:39:16Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • langes s (ſ): als s transkribiert
  • Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/481
Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 453. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/481>, abgerufen am 22.11.2024.