Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.einer so langen Trennung hätte erwarten dürfen; denn ich will nicht glauben, daß sich ihr Herz schon bis zur Unempfindlichkeit gegen ihr eignes Blut sollte verhärtet haben. Wie ich in das Haus trat, fand ich Alles im nachlässigsten Zustande. Die Treppen waren allerdings gescheuert, allein die Teppiche waren unordentlich auf ihnen befestigt. Die messingenen Schlösser der Thüren schienen lange nicht geputzt zu seyn oder wenigstens nicht mit der Sorgfalt, welche man bei einer Tochter meiner Mutter hätte voraussetzen sollen. Jch hatte die größte Mühe, bei meiner Schwester vorgelassen zu werden; denn welche Vernachlässigung! sie hatte weder den Portier noch sonst einen Bedienten von meiner bevorstehenden Ankunft benachrichtigt; denn nur meine große Aehnlichkeit mit Bab war ein wirksamer Eingangspaß in ihr Haus. Wie ich eintrete, finde ich die ganze Familie in der auffallendsten Bestürzung. Bab liegt im Sopha unter konvulsivischen Zuckungen; sie erkennt mich wohl, aber beinah lag in ihrem Gruße der Schmerzensruf, als wollte sie sagen: Nun muß die auch noch dazu kommen! Nun konnte ich mich doch nicht enthalten, auszurufen, als die drei Töchter auch noch keinen Schritt verloren, um mich zu begrüßen: Jst das ein Empfang für Tante Beck (Rebekka)? "Ach Schwester", schrie Bab aus ihrem epileptischen Zustande heraus, "mußt du auch gerade kommen, wo uns allen zu Muthe ist, als sollten wir den Tod haben? Ach, Beck, setze dich, meine letzte Stunde ist gekommen." Wie mein mitleidiges Herz einer so langen Trennung hätte erwarten dürfen; denn ich will nicht glauben, daß sich ihr Herz schon bis zur Unempfindlichkeit gegen ihr eignes Blut sollte verhärtet haben. Wie ich in das Haus trat, fand ich Alles im nachlässigsten Zustande. Die Treppen waren allerdings gescheuert, allein die Teppiche waren unordentlich auf ihnen befestigt. Die messingenen Schlösser der Thüren schienen lange nicht geputzt zu seyn oder wenigstens nicht mit der Sorgfalt, welche man bei einer Tochter meiner Mutter hätte voraussetzen sollen. Jch hatte die größte Mühe, bei meiner Schwester vorgelassen zu werden; denn welche Vernachlässigung! sie hatte weder den Portier noch sonst einen Bedienten von meiner bevorstehenden Ankunft benachrichtigt; denn nur meine große Aehnlichkeit mit Bab war ein wirksamer Eingangspaß in ihr Haus. Wie ich eintrete, finde ich die ganze Familie in der auffallendsten Bestürzung. Bab liegt im Sopha unter konvulsivischen Zuckungen; sie erkennt mich wohl, aber beinah lag in ihrem Gruße der Schmerzensruf, als wollte sie sagen: Nun muß die auch noch dazu kommen! Nun konnte ich mich doch nicht enthalten, auszurufen, als die drei Töchter auch noch keinen Schritt verloren, um mich zu begrüßen: Jst das ein Empfang für Tante Beck (Rebekka)? "Ach Schwester", schrie Bab aus ihrem epileptischen Zustande heraus, "mußt du auch gerade kommen, wo uns allen zu Muthe ist, als sollten wir den Tod haben? Ach, Beck, setze dich, meine letzte Stunde ist gekommen." Wie mein mitleidiges Herz <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0461" n="433"/> einer so langen Trennung hätte erwarten dürfen; denn ich will nicht glauben, daß sich ihr Herz schon bis zur Unempfindlichkeit gegen ihr eignes Blut sollte verhärtet haben. Wie ich in das Haus trat, fand ich Alles im nachlässigsten Zustande. Die Treppen waren allerdings gescheuert, allein die Teppiche waren unordentlich auf ihnen befestigt. Die messingenen Schlösser der Thüren schienen lange nicht geputzt zu seyn oder wenigstens nicht mit der Sorgfalt, welche man bei einer Tochter meiner Mutter hätte voraussetzen sollen. Jch hatte die größte Mühe, bei meiner Schwester vorgelassen zu werden; denn welche Vernachlässigung! sie hatte weder den Portier noch sonst einen Bedienten von meiner bevorstehenden Ankunft benachrichtigt; denn nur meine große Aehnlichkeit mit Bab war ein wirksamer Eingangspaß in ihr Haus. Wie ich eintrete, finde ich die ganze Familie in der auffallendsten Bestürzung. Bab liegt im Sopha unter konvulsivischen Zuckungen; sie erkennt mich wohl, aber beinah lag in ihrem Gruße der Schmerzensruf, als wollte sie sagen: Nun muß die auch noch dazu kommen! Nun konnte ich mich doch nicht enthalten, auszurufen, als die drei Töchter auch noch keinen Schritt verloren, um mich zu begrüßen: Jst das ein Empfang für Tante Beck (Rebekka)? "Ach Schwester", schrie Bab aus ihrem epileptischen Zustande heraus, "mußt du auch gerade kommen, wo uns allen zu Muthe ist, als sollten wir den Tod haben? Ach, Beck, setze dich, meine letzte Stunde ist gekommen." Wie mein mitleidiges Herz </p> </div> </body> </text> </TEI> [433/0461]
einer so langen Trennung hätte erwarten dürfen; denn ich will nicht glauben, daß sich ihr Herz schon bis zur Unempfindlichkeit gegen ihr eignes Blut sollte verhärtet haben. Wie ich in das Haus trat, fand ich Alles im nachlässigsten Zustande. Die Treppen waren allerdings gescheuert, allein die Teppiche waren unordentlich auf ihnen befestigt. Die messingenen Schlösser der Thüren schienen lange nicht geputzt zu seyn oder wenigstens nicht mit der Sorgfalt, welche man bei einer Tochter meiner Mutter hätte voraussetzen sollen. Jch hatte die größte Mühe, bei meiner Schwester vorgelassen zu werden; denn welche Vernachlässigung! sie hatte weder den Portier noch sonst einen Bedienten von meiner bevorstehenden Ankunft benachrichtigt; denn nur meine große Aehnlichkeit mit Bab war ein wirksamer Eingangspaß in ihr Haus. Wie ich eintrete, finde ich die ganze Familie in der auffallendsten Bestürzung. Bab liegt im Sopha unter konvulsivischen Zuckungen; sie erkennt mich wohl, aber beinah lag in ihrem Gruße der Schmerzensruf, als wollte sie sagen: Nun muß die auch noch dazu kommen! Nun konnte ich mich doch nicht enthalten, auszurufen, als die drei Töchter auch noch keinen Schritt verloren, um mich zu begrüßen: Jst das ein Empfang für Tante Beck (Rebekka)? "Ach Schwester", schrie Bab aus ihrem epileptischen Zustande heraus, "mußt du auch gerade kommen, wo uns allen zu Muthe ist, als sollten wir den Tod haben? Ach, Beck, setze dich, meine letzte Stunde ist gekommen." Wie mein mitleidiges Herz
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/461 |
Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 433. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/461>, abgerufen am 28.07.2024. |