Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.wirklichen Verbrechen sind wir trotz unsrer kriminalistischen Gesittung reicher, als man es im Alterthum war. Der Diebstahl, an und für sich betrachtet, ist ein größres Verbrechen als der Mord. Der Mord aus Rachsucht und Leidenschaft entsteht nur aus einem Mangel an moralischer Bildung; der Diebstahl aber immer aus einem positiven Verbrechen, im Bewußtseyn seiner Schlechtigkeit. Es wird in unsrer Zeit weit mehr gestohlen, als je im Alterthum gestohlen worden ist. Ein Jahr in London ist ergiebiger an Dieben, als die ganze Vorzeit der römischen Geschichte. Das Verbrechen der Giftmischung kannte das Alterthum nur auf dem Throne, wir haben jährlich Gelegenheit, es in den Hütten zu entdecken. Wenn unsre Verbrechen nur noch die äußere Landstraße des Lebens unsicher machen, so liegt dieß blos an der polizeilichen Veranstaltung. Ohne diese etwas zweideutige Blüthe der Kultur würde es im heutigen Europa unsichrer seyn, als in den Wüsten der Beduinen. Unsre Zeit hat unendlich weniger moralische Haltung als das Alterthum. Unsre Tugenden entspringen fast alle aus negativen Berechnungen, keinesweges aus jenem positiven Stolz, der das Alterthum so hoch stellte. Je mehr Reflexion in die Seele des gemeinen Mannes unsrer Zeit kömmt, je höher die Zahl der Faktoren, mit denen er in einem Riesenschritte machenden Jahrhundert rechnen muß, desto verworrener und schwankender wird in ihm die Erhaltung des moralischen Gleichgewichtes seiner Person. Aus seiner Jnnerlichkeit herausgerückt, geht ihm der Ort verloren, wo er früher seinen Schwerpunkt wirklichen Verbrechen sind wir trotz unsrer kriminalistischen Gesittung reicher, als man es im Alterthum war. Der Diebstahl, an und für sich betrachtet, ist ein größres Verbrechen als der Mord. Der Mord aus Rachsucht und Leidenschaft entsteht nur aus einem Mangel an moralischer Bildung; der Diebstahl aber immer aus einem positiven Verbrechen, im Bewußtseyn seiner Schlechtigkeit. Es wird in unsrer Zeit weit mehr gestohlen, als je im Alterthum gestohlen worden ist. Ein Jahr in London ist ergiebiger an Dieben, als die ganze Vorzeit der römischen Geschichte. Das Verbrechen der Giftmischung kannte das Alterthum nur auf dem Throne, wir haben jährlich Gelegenheit, es in den Hütten zu entdecken. Wenn unsre Verbrechen nur noch die äußere Landstraße des Lebens unsicher machen, so liegt dieß blos an der polizeilichen Veranstaltung. Ohne diese etwas zweideutige Blüthe der Kultur würde es im heutigen Europa unsichrer seyn, als in den Wüsten der Beduinen. Unsre Zeit hat unendlich weniger moralische Haltung als das Alterthum. Unsre Tugenden entspringen fast alle aus negativen Berechnungen, keinesweges aus jenem positiven Stolz, der das Alterthum so hoch stellte. Je mehr Reflexion in die Seele des gemeinen Mannes unsrer Zeit kömmt, je höher die Zahl der Faktoren, mit denen er in einem Riesenschritte machenden Jahrhundert rechnen muß, desto verworrener und schwankender wird in ihm die Erhaltung des moralischen Gleichgewichtes seiner Person. Aus seiner Jnnerlichkeit herausgerückt, geht ihm der Ort verloren, wo er früher seinen Schwerpunkt <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0409" n="381"/> wirklichen Verbrechen sind wir trotz unsrer kriminalistischen Gesittung reicher, als man es im Alterthum war. Der Diebstahl, an und für sich betrachtet, ist ein größres Verbrechen als der Mord. Der Mord aus Rachsucht und Leidenschaft entsteht nur aus einem <hi rendition="#g">Mangel</hi> an moralischer Bildung; der Diebstahl aber immer aus einem positiven Verbrechen, im Bewußtseyn seiner Schlechtigkeit. Es wird in unsrer Zeit weit mehr gestohlen, als je im Alterthum gestohlen worden ist. Ein Jahr in London ist ergiebiger an Dieben, als die ganze Vorzeit der römischen Geschichte. Das Verbrechen der Giftmischung kannte das Alterthum nur auf dem Throne, wir haben jährlich Gelegenheit, es in den Hütten zu entdecken. Wenn unsre Verbrechen nur noch die äußere Landstraße des Lebens unsicher machen, so liegt dieß blos an der polizeilichen Veranstaltung. Ohne diese etwas zweideutige Blüthe der Kultur würde es im heutigen Europa unsichrer seyn, als in den Wüsten der Beduinen. Unsre Zeit hat unendlich weniger <hi rendition="#g">moralische Haltung</hi> als das Alterthum. Unsre Tugenden entspringen fast alle aus negativen Berechnungen, keinesweges aus jenem positiven Stolz, der das Alterthum so hoch stellte. Je mehr Reflexion in die Seele des gemeinen Mannes unsrer Zeit kömmt, je höher die Zahl der Faktoren, mit denen er in einem Riesenschritte machenden Jahrhundert rechnen muß, desto verworrener und schwankender wird in ihm die Erhaltung des moralischen Gleichgewichtes seiner Person. Aus seiner Jnnerlichkeit herausgerückt, geht ihm der Ort verloren, wo er früher seinen Schwerpunkt </p> </div> </body> </text> </TEI> [381/0409]
wirklichen Verbrechen sind wir trotz unsrer kriminalistischen Gesittung reicher, als man es im Alterthum war. Der Diebstahl, an und für sich betrachtet, ist ein größres Verbrechen als der Mord. Der Mord aus Rachsucht und Leidenschaft entsteht nur aus einem Mangel an moralischer Bildung; der Diebstahl aber immer aus einem positiven Verbrechen, im Bewußtseyn seiner Schlechtigkeit. Es wird in unsrer Zeit weit mehr gestohlen, als je im Alterthum gestohlen worden ist. Ein Jahr in London ist ergiebiger an Dieben, als die ganze Vorzeit der römischen Geschichte. Das Verbrechen der Giftmischung kannte das Alterthum nur auf dem Throne, wir haben jährlich Gelegenheit, es in den Hütten zu entdecken. Wenn unsre Verbrechen nur noch die äußere Landstraße des Lebens unsicher machen, so liegt dieß blos an der polizeilichen Veranstaltung. Ohne diese etwas zweideutige Blüthe der Kultur würde es im heutigen Europa unsichrer seyn, als in den Wüsten der Beduinen. Unsre Zeit hat unendlich weniger moralische Haltung als das Alterthum. Unsre Tugenden entspringen fast alle aus negativen Berechnungen, keinesweges aus jenem positiven Stolz, der das Alterthum so hoch stellte. Je mehr Reflexion in die Seele des gemeinen Mannes unsrer Zeit kömmt, je höher die Zahl der Faktoren, mit denen er in einem Riesenschritte machenden Jahrhundert rechnen muß, desto verworrener und schwankender wird in ihm die Erhaltung des moralischen Gleichgewichtes seiner Person. Aus seiner Jnnerlichkeit herausgerückt, geht ihm der Ort verloren, wo er früher seinen Schwerpunkt
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 381. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/409>, abgerufen am 28.07.2024. |