Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.selbst unterrichtet, er hatte Freunde, mit denen er schwärmte, er kannte London nicht, er kannte nur die Einsamkeiten, welche sich hinter dem Gewühle dieser Stadt so gut finden, wie versteckte Vogelnester. Aber mein Freund fügte sich, er sah das Unglück seiner Eltern und saß von früh bis spät im Webstuhle seines Vaters, der nur diesen einen übrig behalten hatte, selbst nicht mehr aus Wohlleben arbeiten konnte und den ganzen Tag sich nur mit Zeitungen und Politik beschäftigte. Die Mutter war eine hochfahrende Frau, die überdieß nicht wirthschaften konnte. Mein Freund Wilson lernte damals die Welt kennen durch zwei Menschen, die seine Eltern waren, die er aber duldete und ernährte. Die einzige Erholung, die ihm wurde, bot ihm die Nacht. Er wußte nicht ein Wort von der Zeitgeschichte, er sah nichts mehr, was hienieden einen Werth anspricht, sondern des Nachts stieg er mit einem Freunde, der ihm treu geblieben, auf die Dächer und studirte die Sterne. Es lag in der Zeit damals ein schwärmerischer Ansteckungsstoff, der aus der Periode der Empfindsamkeit herrührte, im Richardson eine Vermischung Sterne's und Rousseau's hervorbrachte und sich jetzt erst den von der großen Welt, ihren Debatten und Empfindungen ferner Stehenden mittheilte. Mein Freund spricht von jener Periode, wo er die Sterne zählte und seine Begriffe von der Gottheit regelte, immer mit einer Andacht, die mich erröthen macht, wenn ich denke, wie all' unsre moderne Tendenz darauf hinausgeht, sich und sein Herz selbst unterrichtet, er hatte Freunde, mit denen er schwärmte, er kannte London nicht, er kannte nur die Einsamkeiten, welche sich hinter dem Gewühle dieser Stadt so gut finden, wie versteckte Vogelnester. Aber mein Freund fügte sich, er sah das Unglück seiner Eltern und saß von früh bis spät im Webstuhle seines Vaters, der nur diesen einen übrig behalten hatte, selbst nicht mehr aus Wohlleben arbeiten konnte und den ganzen Tag sich nur mit Zeitungen und Politik beschäftigte. Die Mutter war eine hochfahrende Frau, die überdieß nicht wirthschaften konnte. Mein Freund Wilson lernte damals die Welt kennen durch zwei Menschen, die seine Eltern waren, die er aber duldete und ernährte. Die einzige Erholung, die ihm wurde, bot ihm die Nacht. Er wußte nicht ein Wort von der Zeitgeschichte, er sah nichts mehr, was hienieden einen Werth anspricht, sondern des Nachts stieg er mit einem Freunde, der ihm treu geblieben, auf die Dächer und studirte die Sterne. Es lag in der Zeit damals ein schwärmerischer Ansteckungsstoff, der aus der Periode der Empfindsamkeit herrührte, im Richardson eine Vermischung Sterne’s und Rousseau’s hervorbrachte und sich jetzt erst den von der großen Welt, ihren Debatten und Empfindungen ferner Stehenden mittheilte. Mein Freund spricht von jener Periode, wo er die Sterne zählte und seine Begriffe von der Gottheit regelte, immer mit einer Andacht, die mich erröthen macht, wenn ich denke, wie all’ unsre moderne Tendenz darauf hinausgeht, sich und sein Herz <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0033" n="5"/> selbst unterrichtet, er hatte Freunde, mit denen er schwärmte, er kannte London nicht, er kannte nur die Einsamkeiten, welche sich hinter dem Gewühle dieser Stadt so gut finden, wie versteckte Vogelnester. Aber mein Freund fügte sich, er sah das Unglück seiner Eltern und saß von früh bis spät im Webstuhle seines Vaters, der nur diesen einen übrig behalten hatte, selbst nicht mehr aus Wohlleben arbeiten konnte und den ganzen Tag sich nur mit Zeitungen und Politik beschäftigte. Die Mutter war eine hochfahrende Frau, die überdieß nicht wirthschaften konnte. Mein Freund Wilson lernte damals die Welt kennen durch zwei Menschen, die seine Eltern waren, die er aber duldete und ernährte. Die einzige Erholung, die ihm wurde, bot ihm die Nacht. Er wußte nicht ein Wort von der Zeitgeschichte, er sah nichts mehr, was hienieden einen Werth anspricht, sondern des Nachts stieg er mit einem Freunde, der ihm treu geblieben, auf die Dächer und studirte die Sterne. Es lag in der Zeit damals ein schwärmerischer Ansteckungsstoff, der aus der Periode der Empfindsamkeit herrührte, im Richardson eine Vermischung Sterne’s und Rousseau’s hervorbrachte und sich jetzt erst den von der großen Welt, ihren Debatten und Empfindungen ferner Stehenden mittheilte. Mein Freund spricht von jener Periode, wo er die Sterne zählte und seine Begriffe von der Gottheit regelte, immer mit einer Andacht, die mich erröthen macht, wenn ich denke, wie all’ unsre moderne Tendenz darauf hinausgeht, sich und sein Herz </p> </div> </body> </text> </TEI> [5/0033]
selbst unterrichtet, er hatte Freunde, mit denen er schwärmte, er kannte London nicht, er kannte nur die Einsamkeiten, welche sich hinter dem Gewühle dieser Stadt so gut finden, wie versteckte Vogelnester. Aber mein Freund fügte sich, er sah das Unglück seiner Eltern und saß von früh bis spät im Webstuhle seines Vaters, der nur diesen einen übrig behalten hatte, selbst nicht mehr aus Wohlleben arbeiten konnte und den ganzen Tag sich nur mit Zeitungen und Politik beschäftigte. Die Mutter war eine hochfahrende Frau, die überdieß nicht wirthschaften konnte. Mein Freund Wilson lernte damals die Welt kennen durch zwei Menschen, die seine Eltern waren, die er aber duldete und ernährte. Die einzige Erholung, die ihm wurde, bot ihm die Nacht. Er wußte nicht ein Wort von der Zeitgeschichte, er sah nichts mehr, was hienieden einen Werth anspricht, sondern des Nachts stieg er mit einem Freunde, der ihm treu geblieben, auf die Dächer und studirte die Sterne. Es lag in der Zeit damals ein schwärmerischer Ansteckungsstoff, der aus der Periode der Empfindsamkeit herrührte, im Richardson eine Vermischung Sterne’s und Rousseau’s hervorbrachte und sich jetzt erst den von der großen Welt, ihren Debatten und Empfindungen ferner Stehenden mittheilte. Mein Freund spricht von jener Periode, wo er die Sterne zählte und seine Begriffe von der Gottheit regelte, immer mit einer Andacht, die mich erröthen macht, wenn ich denke, wie all’ unsre moderne Tendenz darauf hinausgeht, sich und sein Herz
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/33>, abgerufen am 27.07.2024. |