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Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.

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der Philosophie; wenn das Mittelalter eine neue Zukunft predigte, so war es bei Mystikern die kommende Herrlichkeit Gottes, bei Rationalisten der Fortschritt in Bereicherung der Wissenschaften und Wiederbelebung des Alterthums; alles Große, was die Reformation träumte, war auf die Enthüllung himmlischer Geheimnisse gerichtet, auf den Sieg der Vernunft und die Reinigung des Glaubens, kurz, alle vergangenen Zeiten knüpften ihre Bestrebungen an die Eroberung des Himmels an und drangen nach der Enthüllung Gottes und seiner Geheimnisse. Ganz anders ist das Jdeal unsrer Zeit. Sie gibt die Ewigkeit preis als etwas, das von selbst kömmt oder auf sich beruhen möge, und sucht sich nur auf die Lösung jener Aufgaben, welche rein irdischer Natur sind, zu beschränken. Der Staat, das Bürgerthum, die Gemeinde, um diesen Gleichmesser der politischen Begriffe drehen sich alle Meridiane unserer Wünsche und Hoffnungen. Während die Vergangenheit alle Dinge zu erfassen suchte, haben wir uns nur eine einzige Aufgabe gestellt, eine solche freilich, zu deren Lösung wir alle Spitzfindigkeiten unsres Verstandes und alle Leidenschaften unsres Herzens aufbieten. Das sind die zwei großen Fragen, welche gegenwärtig im Streit mit einander liegen. Soll der politische Gedanke unsrer Zeit in eine allgemeine, die ganze Menschheit umfassende Vollständigkeit erweitert werden; oder soll dieser Gedanke beschränkt werden auf ein einfaches Axiom der Rechtsgelehrsamkeit? Nicht Revolution, nicht Reaktion,

der Philosophie; wenn das Mittelalter eine neue Zukunft predigte, so war es bei Mystikern die kommende Herrlichkeit Gottes, bei Rationalisten der Fortschritt in Bereicherung der Wissenschaften und Wiederbelebung des Alterthums; alles Große, was die Reformation träumte, war auf die Enthüllung himmlischer Geheimnisse gerichtet, auf den Sieg der Vernunft und die Reinigung des Glaubens, kurz, alle vergangenen Zeiten knüpften ihre Bestrebungen an die Eroberung des Himmels an und drangen nach der Enthüllung Gottes und seiner Geheimnisse. Ganz anders ist das Jdeal unsrer Zeit. Sie gibt die Ewigkeit preis als etwas, das von selbst kömmt oder auf sich beruhen möge, und sucht sich nur auf die Lösung jener Aufgaben, welche rein irdischer Natur sind, zu beschränken. Der Staat, das Bürgerthum, die Gemeinde, um diesen Gleichmesser der politischen Begriffe drehen sich alle Meridiane unserer Wünsche und Hoffnungen. Während die Vergangenheit alle Dinge zu erfassen suchte, haben wir uns nur eine einzige Aufgabe gestellt, eine solche freilich, zu deren Lösung wir alle Spitzfindigkeiten unsres Verstandes und alle Leidenschaften unsres Herzens aufbieten. Das sind die zwei großen Fragen, welche gegenwärtig im Streit mit einander liegen. Soll der politische Gedanke unsrer Zeit in eine allgemeine, die ganze Menschheit umfassende Vollständigkeit erweitert werden; oder soll dieser Gedanke beschränkt werden auf ein einfaches Axiom der Rechtsgelehrsamkeit? Nicht Revolution, nicht Reaktion,

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[276/0304] der Philosophie; wenn das Mittelalter eine neue Zukunft predigte, so war es bei Mystikern die kommende Herrlichkeit Gottes, bei Rationalisten der Fortschritt in Bereicherung der Wissenschaften und Wiederbelebung des Alterthums; alles Große, was die Reformation träumte, war auf die Enthüllung himmlischer Geheimnisse gerichtet, auf den Sieg der Vernunft und die Reinigung des Glaubens, kurz, alle vergangenen Zeiten knüpften ihre Bestrebungen an die Eroberung des Himmels an und drangen nach der Enthüllung Gottes und seiner Geheimnisse. Ganz anders ist das Jdeal unsrer Zeit. Sie gibt die Ewigkeit preis als etwas, das von selbst kömmt oder auf sich beruhen möge, und sucht sich nur auf die Lösung jener Aufgaben, welche rein irdischer Natur sind, zu beschränken. Der Staat, das Bürgerthum, die Gemeinde, um diesen Gleichmesser der politischen Begriffe drehen sich alle Meridiane unserer Wünsche und Hoffnungen. Während die Vergangenheit alle Dinge zu erfassen suchte, haben wir uns nur eine einzige Aufgabe gestellt, eine solche freilich, zu deren Lösung wir alle Spitzfindigkeiten unsres Verstandes und alle Leidenschaften unsres Herzens aufbieten. Das sind die zwei großen Fragen, welche gegenwärtig im Streit mit einander liegen. Soll der politische Gedanke unsrer Zeit in eine allgemeine, die ganze Menschheit umfassende Vollständigkeit erweitert werden; oder soll dieser Gedanke beschränkt werden auf ein einfaches Axiom der Rechtsgelehrsamkeit? Nicht Revolution, nicht Reaktion,

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Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/304>, abgerufen am 23.11.2024.