Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.Sarg wieder in die Erde gesenkt. Der Staat schlägt seine liebenden Arme um ihn, seine vorsorgenden, seine schützenden, seine tyrannischen; er gibt ihm und nimmt; er liebkost und demüthigt ihn. Er bietet dir Alles an und versagt dir Alles; der Staat beherrscht nicht blos unsre physischen Kräfte, unsern Arm und unsre Geldmittel, sondern in die feinsten Poren unseres Geistes dringt er ein und läßt uns keinen einzigen Begriff bilden, der nicht durch seine Atmosphäre erst Dauer und praktische Consistenz erhält. Wir können uns mit Gott allein fühlen; allein mit unsrer Liebe. Wollen wir aber an unsren Freuden Genossen finden, so nimmt jede unsrer Bewegungen durch diese Gemeinschaft eine eigenthümliche Beugung an. Alle unsre Vorstellungen sind durch den Staat, welcher uns gefesselt hält, relativ geworden; ja selbst in Nordamerika, wo man so wenig auf den Staat gibt und ihn immer nur als das letzte anerkennt, hat sich doch diese Gleichgültigkeit auch aller sonstiger Gemüths- und Geistesvorstellungen bemächtigt und ihnen ein Gepräge gegeben, welches, wie verschieden es auch von den öffentlichen Thatsachen zu seyn scheint, doch mit ihnen ganz denselben Ursprung und Charakter trägt. All unser Stolz, alle die großen Jdeen, von welchen sich unsre Zeitgenossen jetzt getragen fühlen, all' unsre Debatten sind politischer Natur. Eine merkwürdige Erscheinung! Wenn man im Alterthum vom Fortschritte der Zeiten sprach, so dachte man an die Ausbildung Sarg wieder in die Erde gesenkt. Der Staat schlägt seine liebenden Arme um ihn, seine vorsorgenden, seine schützenden, seine tyrannischen; er gibt ihm und nimmt; er liebkost und demüthigt ihn. Er bietet dir Alles an und versagt dir Alles; der Staat beherrscht nicht blos unsre physischen Kräfte, unsern Arm und unsre Geldmittel, sondern in die feinsten Poren unseres Geistes dringt er ein und läßt uns keinen einzigen Begriff bilden, der nicht durch seine Atmosphäre erst Dauer und praktische Consistenz erhält. Wir können uns mit Gott allein fühlen; allein mit unsrer Liebe. Wollen wir aber an unsren Freuden Genossen finden, so nimmt jede unsrer Bewegungen durch diese Gemeinschaft eine eigenthümliche Beugung an. Alle unsre Vorstellungen sind durch den Staat, welcher uns gefesselt hält, relativ geworden; ja selbst in Nordamerika, wo man so wenig auf den Staat gibt und ihn immer nur als das letzte anerkennt, hat sich doch diese Gleichgültigkeit auch aller sonstiger Gemüths- und Geistesvorstellungen bemächtigt und ihnen ein Gepräge gegeben, welches, wie verschieden es auch von den öffentlichen Thatsachen zu seyn scheint, doch mit ihnen ganz denselben Ursprung und Charakter trägt. All unser Stolz, alle die großen Jdeen, von welchen sich unsre Zeitgenossen jetzt getragen fühlen, all’ unsre Debatten sind politischer Natur. Eine merkwürdige Erscheinung! Wenn man im Alterthum vom Fortschritte der Zeiten sprach, so dachte man an die Ausbildung <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0303" n="275"/> Sarg wieder in die Erde gesenkt. Der Staat schlägt seine liebenden Arme um ihn, seine vorsorgenden, seine schützenden, seine tyrannischen; er gibt ihm und nimmt; er liebkost und demüthigt ihn. Er bietet dir Alles an und versagt dir Alles; der Staat beherrscht nicht blos unsre physischen Kräfte, unsern Arm und unsre Geldmittel, sondern in die feinsten Poren unseres Geistes dringt er ein und läßt uns keinen einzigen Begriff bilden, der nicht durch seine Atmosphäre erst Dauer und praktische Consistenz erhält. Wir können uns mit Gott <hi rendition="#g">allein</hi> fühlen; allein mit unsrer Liebe. Wollen wir aber an unsren Freuden Genossen finden, so nimmt jede unsrer Bewegungen durch diese Gemeinschaft eine eigenthümliche Beugung an. Alle unsre Vorstellungen sind durch den Staat, welcher uns gefesselt hält, relativ geworden; ja selbst in Nordamerika, wo man so wenig auf den Staat gibt und ihn immer nur als das letzte anerkennt, hat sich doch diese Gleichgültigkeit auch aller sonstiger Gemüths- und Geistesvorstellungen bemächtigt und ihnen ein Gepräge gegeben, welches, wie verschieden es auch von den öffentlichen Thatsachen zu seyn scheint, doch mit ihnen ganz denselben Ursprung und Charakter trägt.</p> <p>All unser Stolz, alle die großen Jdeen, von welchen sich unsre Zeitgenossen jetzt getragen fühlen, all’ unsre Debatten sind politischer Natur. Eine merkwürdige Erscheinung! Wenn man im Alterthum vom Fortschritte der Zeiten sprach, so dachte man an die Ausbildung </p> </div> </body> </text> </TEI> [275/0303]
Sarg wieder in die Erde gesenkt. Der Staat schlägt seine liebenden Arme um ihn, seine vorsorgenden, seine schützenden, seine tyrannischen; er gibt ihm und nimmt; er liebkost und demüthigt ihn. Er bietet dir Alles an und versagt dir Alles; der Staat beherrscht nicht blos unsre physischen Kräfte, unsern Arm und unsre Geldmittel, sondern in die feinsten Poren unseres Geistes dringt er ein und läßt uns keinen einzigen Begriff bilden, der nicht durch seine Atmosphäre erst Dauer und praktische Consistenz erhält. Wir können uns mit Gott allein fühlen; allein mit unsrer Liebe. Wollen wir aber an unsren Freuden Genossen finden, so nimmt jede unsrer Bewegungen durch diese Gemeinschaft eine eigenthümliche Beugung an. Alle unsre Vorstellungen sind durch den Staat, welcher uns gefesselt hält, relativ geworden; ja selbst in Nordamerika, wo man so wenig auf den Staat gibt und ihn immer nur als das letzte anerkennt, hat sich doch diese Gleichgültigkeit auch aller sonstiger Gemüths- und Geistesvorstellungen bemächtigt und ihnen ein Gepräge gegeben, welches, wie verschieden es auch von den öffentlichen Thatsachen zu seyn scheint, doch mit ihnen ganz denselben Ursprung und Charakter trägt.
All unser Stolz, alle die großen Jdeen, von welchen sich unsre Zeitgenossen jetzt getragen fühlen, all’ unsre Debatten sind politischer Natur. Eine merkwürdige Erscheinung! Wenn man im Alterthum vom Fortschritte der Zeiten sprach, so dachte man an die Ausbildung
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/303>, abgerufen am 28.07.2024. |