Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.Voraussetzungen hatten sie, um Begriffe zu bilden? Ebenso macht uns die incorrekte Zeichnung der mittelalterlichen Gemälde und die Betrachtung des ungeheuern Nichtwissens, welches die Periode des sinnigen Gemüths und der Affekte verdunkelte, diese Zeit weit anschaulicher, als die schönsten Rittergedichte, die wir zartfühlend genug seyn sollen, noch immer so mitzuempfinden, als wären sie für uns selbst bestimmt. Ebenso charakterisirt unsre Zeit weit weniger der ungeheuere Umfang unsres geistigen Strebens, als die Bedrängniß, in welche dabei unser Gemüth, und die Vernachlässigung, in welche unsre physische Beschaffenheit gerathen muß. Unser Reichthum macht uns weniger kenntlich, als unsre Armuth. Dieß der Grund, warum wir über diese mehr sprechen wollen, als über jenen. Die Frage der physischen Existenz ist leicht die wichtigste unsres Zeitalters. Sie berührt unsre nächsten Jnteressen; sie ist einem Strome zu vergleichen, der aus seinen Ufern getreten ist, sich immer weiter ausdehnt, Bäume, Thiere, Menschen fortreißt, die Saaten verderbt und bald auch unserer eigenen Hütte nah seyn wird. Die Existenzfrage ist keine aus einem System gerissene Unterhaltungs- und zufällige Belehrungsveranlassung; sondern die Noth des Augenblicks gebietet sie. Wir wollen erst den Thatbestand angeben und die Mittel, die in diesem Betracht vorgeschlagen sind, prüfen und mit einer Berechnung der Resultate, die sich aus unsrer Betrachtung ergeben dürften, schließen. Voraussetzungen hatten sie, um Begriffe zu bilden? Ebenso macht uns die incorrekte Zeichnung der mittelalterlichen Gemälde und die Betrachtung des ungeheuern Nichtwissens, welches die Periode des sinnigen Gemüths und der Affekte verdunkelte, diese Zeit weit anschaulicher, als die schönsten Rittergedichte, die wir zartfühlend genug seyn sollen, noch immer so mitzuempfinden, als wären sie für uns selbst bestimmt. Ebenso charakterisirt unsre Zeit weit weniger der ungeheuere Umfang unsres geistigen Strebens, als die Bedrängniß, in welche dabei unser Gemüth, und die Vernachlässigung, in welche unsre physische Beschaffenheit gerathen muß. Unser Reichthum macht uns weniger kenntlich, als unsre Armuth. Dieß der Grund, warum wir über diese mehr sprechen wollen, als über jenen. Die Frage der physischen Existenz ist leicht die wichtigste unsres Zeitalters. Sie berührt unsre nächsten Jnteressen; sie ist einem Strome zu vergleichen, der aus seinen Ufern getreten ist, sich immer weiter ausdehnt, Bäume, Thiere, Menschen fortreißt, die Saaten verderbt und bald auch unserer eigenen Hütte nah seyn wird. Die Existenzfrage ist keine aus einem System gerissene Unterhaltungs- und zufällige Belehrungsveranlassung; sondern die Noth des Augenblicks gebietet sie. Wir wollen erst den Thatbestand angeben und die Mittel, die in diesem Betracht vorgeschlagen sind, prüfen und mit einer Berechnung der Resultate, die sich aus unsrer Betrachtung ergeben dürften, schließen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0207" n="179"/> Voraussetzungen hatten sie, um Begriffe zu bilden? Ebenso macht uns die incorrekte Zeichnung der mittelalterlichen Gemälde und die Betrachtung des ungeheuern Nichtwissens, welches die Periode des sinnigen Gemüths und der Affekte verdunkelte, diese Zeit weit anschaulicher, als die schönsten Rittergedichte, die wir zartfühlend genug seyn sollen, noch immer so mitzuempfinden, als wären sie für uns selbst bestimmt. Ebenso charakterisirt unsre Zeit weit weniger der ungeheuere Umfang unsres geistigen Strebens, als die Bedrängniß, in welche dabei unser Gemüth, und die Vernachlässigung, in welche unsre physische Beschaffenheit gerathen muß. Unser Reichthum macht uns weniger kenntlich, als unsre Armuth. Dieß der Grund, warum wir über diese mehr sprechen wollen, als über jenen.</p> <p>Die Frage der physischen Existenz ist leicht die wichtigste unsres Zeitalters. Sie berührt unsre nächsten Jnteressen; sie ist einem Strome zu vergleichen, der aus seinen Ufern getreten ist, sich immer weiter ausdehnt, Bäume, Thiere, Menschen fortreißt, die Saaten verderbt und bald auch unserer eigenen Hütte nah seyn wird. Die Existenzfrage ist keine aus einem System gerissene Unterhaltungs- und zufällige Belehrungsveranlassung; sondern die Noth des Augenblicks gebietet sie. Wir wollen erst den Thatbestand angeben und die Mittel, die in diesem Betracht vorgeschlagen sind, prüfen und mit einer Berechnung der Resultate, die sich aus unsrer Betrachtung ergeben dürften, schließen. </p> </div> </body> </text> </TEI> [179/0207]
Voraussetzungen hatten sie, um Begriffe zu bilden? Ebenso macht uns die incorrekte Zeichnung der mittelalterlichen Gemälde und die Betrachtung des ungeheuern Nichtwissens, welches die Periode des sinnigen Gemüths und der Affekte verdunkelte, diese Zeit weit anschaulicher, als die schönsten Rittergedichte, die wir zartfühlend genug seyn sollen, noch immer so mitzuempfinden, als wären sie für uns selbst bestimmt. Ebenso charakterisirt unsre Zeit weit weniger der ungeheuere Umfang unsres geistigen Strebens, als die Bedrängniß, in welche dabei unser Gemüth, und die Vernachlässigung, in welche unsre physische Beschaffenheit gerathen muß. Unser Reichthum macht uns weniger kenntlich, als unsre Armuth. Dieß der Grund, warum wir über diese mehr sprechen wollen, als über jenen.
Die Frage der physischen Existenz ist leicht die wichtigste unsres Zeitalters. Sie berührt unsre nächsten Jnteressen; sie ist einem Strome zu vergleichen, der aus seinen Ufern getreten ist, sich immer weiter ausdehnt, Bäume, Thiere, Menschen fortreißt, die Saaten verderbt und bald auch unserer eigenen Hütte nah seyn wird. Die Existenzfrage ist keine aus einem System gerissene Unterhaltungs- und zufällige Belehrungsveranlassung; sondern die Noth des Augenblicks gebietet sie. Wir wollen erst den Thatbestand angeben und die Mittel, die in diesem Betracht vorgeschlagen sind, prüfen und mit einer Berechnung der Resultate, die sich aus unsrer Betrachtung ergeben dürften, schließen.
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/207>, abgerufen am 28.07.2024. |