Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842.Versinnlichung der höchsten Dinge; bald waren die Menschen mehr von ihren Seelenaffekten, von den Eingebungen des Gemüths dominirt, wie im Mittelalter, wo aus dem Menschenherzen die seltsamsten Phantasieblumen des Gemüths im Bereich der Dichtkunst und der bildenden Kunst sproßten, und sonst das Leben von einem allzuüppigen Drange der unmittelbaren, aus dem Blute entspringenden Neigung und Leidenschaft geschaffen wurde. Jetzt überwiegt die Reflexion, die Herrschaft über Sinnlichkeit und Leidenschaft, der Begriff, oft lachend und lebendig, oft todt und kalt. Es lassen sich die Uebergänge der Zeiten, viele und entscheidende Kämpfe der Geschichte aus dem Streite dieser drei entgegengesetzten Prinzipien herleiten. Jn Völkern und Jndividuen überwog eines das andre und störte das Gleichgewicht, das nur durch Waffengewalt, wie selbst die Fragen des Nachdenkens und der Sittigung, wieder hergestellt werden konnte. Aus dem eigenthümlichen Mehr oder Minder, welches die verschiedenen Epochen an dieser oder jener Fähigkeit aufzuweisen hatten, entsprang ihr besonderer Charakter. Namentlich muß man hier mehr auf das Minus sehen, wie auf das Plus. Man würde - Forschern sey das gesagt - das Alterthum besser kennen, wenn man weniger von seinen Besitzthümern als von seinen Mängeln spräche; die positive Charakteristik des antiken Lebens macht die alte Welt lange nicht so anschaulich, als wenn man untersuchte, was empfanden die Alten, welche Fähigkeiten und Versinnlichung der höchsten Dinge; bald waren die Menschen mehr von ihren Seelenaffekten, von den Eingebungen des Gemüths dominirt, wie im Mittelalter, wo aus dem Menschenherzen die seltsamsten Phantasieblumen des Gemüths im Bereich der Dichtkunst und der bildenden Kunst sproßten, und sonst das Leben von einem allzuüppigen Drange der unmittelbaren, aus dem Blute entspringenden Neigung und Leidenschaft geschaffen wurde. Jetzt überwiegt die Reflexion, die Herrschaft über Sinnlichkeit und Leidenschaft, der Begriff, oft lachend und lebendig, oft todt und kalt. Es lassen sich die Uebergänge der Zeiten, viele und entscheidende Kämpfe der Geschichte aus dem Streite dieser drei entgegengesetzten Prinzipien herleiten. Jn Völkern und Jndividuen überwog eines das andre und störte das Gleichgewicht, das nur durch Waffengewalt, wie selbst die Fragen des Nachdenkens und der Sittigung, wieder hergestellt werden konnte. Aus dem eigenthümlichen Mehr oder Minder, welches die verschiedenen Epochen an dieser oder jener Fähigkeit aufzuweisen hatten, entsprang ihr besonderer Charakter. Namentlich muß man hier mehr auf das Minus sehen, wie auf das Plus. Man würde – Forschern sey das gesagt – das Alterthum besser kennen, wenn man weniger von seinen Besitzthümern als von seinen Mängeln spräche; die positive Charakteristik des antiken Lebens macht die alte Welt lange nicht so anschaulich, als wenn man untersuchte, was empfanden die Alten, welche Fähigkeiten und <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0206" n="178"/> Versinnlichung der höchsten Dinge; bald waren die Menschen mehr von ihren Seelenaffekten, von den Eingebungen des Gemüths dominirt, wie im Mittelalter, wo aus dem Menschenherzen die seltsamsten Phantasieblumen des Gemüths im Bereich der Dichtkunst und der bildenden Kunst sproßten, und sonst das Leben von einem allzuüppigen Drange der unmittelbaren, aus dem Blute entspringenden Neigung und Leidenschaft geschaffen wurde. Jetzt überwiegt die Reflexion, die Herrschaft über Sinnlichkeit und Leidenschaft, der Begriff, oft lachend und lebendig, oft todt und kalt. Es lassen sich die Uebergänge der Zeiten, viele und entscheidende Kämpfe der Geschichte aus dem Streite dieser drei entgegengesetzten Prinzipien herleiten. Jn Völkern und Jndividuen überwog eines das andre und störte das Gleichgewicht, das nur durch Waffengewalt, wie selbst die Fragen des Nachdenkens und der Sittigung, wieder hergestellt werden konnte. Aus dem eigenthümlichen Mehr oder Minder, welches die verschiedenen Epochen an dieser oder jener Fähigkeit aufzuweisen hatten, entsprang ihr besonderer Charakter. Namentlich muß man hier mehr auf das Minus sehen, wie auf das Plus. Man würde – Forschern sey das gesagt – das Alterthum besser kennen, wenn man weniger von seinen Besitzthümern als von seinen Mängeln spräche; die positive Charakteristik des antiken Lebens macht die alte Welt lange nicht so anschaulich, als wenn man untersuchte, was empfanden die Alten, welche Fähigkeiten und </p> </div> </body> </text> </TEI> [178/0206]
Versinnlichung der höchsten Dinge; bald waren die Menschen mehr von ihren Seelenaffekten, von den Eingebungen des Gemüths dominirt, wie im Mittelalter, wo aus dem Menschenherzen die seltsamsten Phantasieblumen des Gemüths im Bereich der Dichtkunst und der bildenden Kunst sproßten, und sonst das Leben von einem allzuüppigen Drange der unmittelbaren, aus dem Blute entspringenden Neigung und Leidenschaft geschaffen wurde. Jetzt überwiegt die Reflexion, die Herrschaft über Sinnlichkeit und Leidenschaft, der Begriff, oft lachend und lebendig, oft todt und kalt. Es lassen sich die Uebergänge der Zeiten, viele und entscheidende Kämpfe der Geschichte aus dem Streite dieser drei entgegengesetzten Prinzipien herleiten. Jn Völkern und Jndividuen überwog eines das andre und störte das Gleichgewicht, das nur durch Waffengewalt, wie selbst die Fragen des Nachdenkens und der Sittigung, wieder hergestellt werden konnte. Aus dem eigenthümlichen Mehr oder Minder, welches die verschiedenen Epochen an dieser oder jener Fähigkeit aufzuweisen hatten, entsprang ihr besonderer Charakter. Namentlich muß man hier mehr auf das Minus sehen, wie auf das Plus. Man würde – Forschern sey das gesagt – das Alterthum besser kennen, wenn man weniger von seinen Besitzthümern als von seinen Mängeln spräche; die positive Charakteristik des antiken Lebens macht die alte Welt lange nicht so anschaulich, als wenn man untersuchte, was empfanden die Alten, welche Fähigkeiten und
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Zitationshilfe: | Gutzkow, Karl: Die Zeitgenossen. 1. Bd. 2. Aufl. Pforzheim, 1842, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_zeitgenossen01_1842/206>, abgerufen am 28.07.2024. |