Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Gutzkow, Karl: Wally, die Zweiflerin. Mannheim, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Bewußtseins! Und dies Alles nicht einmal so
entsetzlich, als das Zunehmen an Jahren.
Jetzt bin ich zwanzig Jahre: welche Empfin¬
dungen werd' ich haben, wenn ich vierzig, fünf¬
zig bin, und es nun heißt: noch zehn, noch
fünf sind die Wahrscheinlichkeit! Dies ist eine
so folternde Grausamkeit des Schicksals, ein
solcher Fluch der menschlichen Natur, daß ich
mich nie entschließen kann, das Gebot der
Gottesliebe zu befolgen. Man gab uns Eini¬
ges und das Meiste wurde uns versagt. Das
Einzige, was wir in seiner ganzen Vollkom¬
menheit zu besitzen scheinen, ist die Fähigkeit,
unsern unglücklichen Zustand zu begreifen und
alle die Dinge zu nennen, welche wir vermis¬
sen sollen.


Gutzkow's Wally. 15

Bewußtſeins! Und dies Alles nicht einmal ſo
entſetzlich, als das Zunehmen an Jahren.
Jetzt bin ich zwanzig Jahre: welche Empfin¬
dungen werd' ich haben, wenn ich vierzig, fünf¬
zig bin, und es nun heißt: noch zehn, noch
fünf ſind die Wahrſcheinlichkeit! Dies iſt eine
ſo folternde Grauſamkeit des Schickſals, ein
ſolcher Fluch der menſchlichen Natur, daß ich
mich nie entſchließen kann, das Gebot der
Gottesliebe zu befolgen. Man gab uns Eini¬
ges und das Meiſte wurde uns verſagt. Das
Einzige, was wir in ſeiner ganzen Vollkom¬
menheit zu beſitzen ſcheinen, iſt die Fähigkeit,
unſern unglücklichen Zuſtand zu begreifen und
alle die Dinge zu nennen, welche wir vermiſ¬
ſen ſollen.


Gutzkow's Wally. 15
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0234" n="225"/>
Bewußt&#x017F;eins! Und dies Alles nicht einmal &#x017F;o<lb/>
ent&#x017F;etzlich, als das Zunehmen an Jahren.<lb/>
Jetzt bin ich zwanzig Jahre: welche Empfin¬<lb/>
dungen werd' ich haben, wenn ich vierzig, fünf¬<lb/>
zig bin, und es nun heißt: noch zehn, noch<lb/>
fünf &#x017F;ind die Wahr&#x017F;cheinlichkeit! Dies i&#x017F;t eine<lb/>
&#x017F;o folternde Grau&#x017F;amkeit des Schick&#x017F;als, ein<lb/>
&#x017F;olcher Fluch der men&#x017F;chlichen Natur, daß ich<lb/>
mich nie ent&#x017F;chließen kann, das Gebot der<lb/>
Gottesliebe zu befolgen. Man gab uns Eini¬<lb/>
ges und das Mei&#x017F;te wurde uns ver&#x017F;agt. Das<lb/>
Einzige, was wir in &#x017F;einer ganzen Vollkom¬<lb/>
menheit zu be&#x017F;itzen &#x017F;cheinen, i&#x017F;t die Fähigkeit,<lb/>
un&#x017F;ern unglücklichen Zu&#x017F;tand zu begreifen und<lb/>
alle die Dinge zu nennen, welche wir vermi&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;en &#x017F;ollen.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
          <fw place="bottom" type="sig">Gutzkow's Wally. 15<lb/></fw>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[225/0234] Bewußtſeins! Und dies Alles nicht einmal ſo entſetzlich, als das Zunehmen an Jahren. Jetzt bin ich zwanzig Jahre: welche Empfin¬ dungen werd' ich haben, wenn ich vierzig, fünf¬ zig bin, und es nun heißt: noch zehn, noch fünf ſind die Wahrſcheinlichkeit! Dies iſt eine ſo folternde Grauſamkeit des Schickſals, ein ſolcher Fluch der menſchlichen Natur, daß ich mich nie entſchließen kann, das Gebot der Gottesliebe zu befolgen. Man gab uns Eini¬ ges und das Meiſte wurde uns verſagt. Das Einzige, was wir in ſeiner ganzen Vollkom¬ menheit zu beſitzen ſcheinen, iſt die Fähigkeit, unſern unglücklichen Zuſtand zu begreifen und alle die Dinge zu nennen, welche wir vermiſ¬ ſen ſollen. Gutzkow's Wally. 15

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_wally_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_wally_1835/234
Zitationshilfe: Gutzkow, Karl: Wally, die Zweiflerin. Mannheim, 1835, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_wally_1835/234>, abgerufen am 25.11.2024.