so unentweiht, ihre früheren Zärtlichkeiten sind so wenig sichtbar in ihrem Benehmen, daß sie dem Manne immer noch als kaum erschlossene Knospe erscheinen muß. Delphine besitzt äußer¬ lich die Reize nicht, einen Mann auf die Länge zu fesseln, aber wer sie einmal, sei es aus Liebe oder Illusion eroberte, der wird sie nie ver¬ lassen können, weil ihre Hülflosigkeit, ihre Hin¬ gebung entwaffnet. Vielleicht arbeitet sie noch mehr an ihrem Geiste. Sie hält einige Mi¬ nuten lang die Dialektik eines bloß verstän¬ digen logischen Gesprächs aus; aber dann kann sie es nur fortsetzen, wenn es entweder auf einen gemüthlichen und Gefühlston übergeht oder auf einen bestimmten vorliegenden Fall, den sie erlebt hat. Ueber einen Fall, den man ihr blos erzählt, kann sie nicht urtheilen, weil sie alle Menschen für gut hält, und alle nach sich selbst richtet. Delphine sollte viel lesen. Sie liest, aber fragmentarisch. Sie ist reich,
Gutzkow's Wally. 14
ſo unentweiht, ihre früheren Zärtlichkeiten ſind ſo wenig ſichtbar in ihrem Benehmen, daß ſie dem Manne immer noch als kaum erſchloſſene Knospe erſcheinen muß. Delphine beſitzt äußer¬ lich die Reize nicht, einen Mann auf die Länge zu feſſeln, aber wer ſie einmal, ſei es aus Liebe oder Illuſion eroberte, der wird ſie nie ver¬ laſſen können, weil ihre Hülfloſigkeit, ihre Hin¬ gebung entwaffnet. Vielleicht arbeitet ſie noch mehr an ihrem Geiſte. Sie hält einige Mi¬ nuten lang die Dialektik eines bloß verſtän¬ digen logiſchen Geſprächs aus; aber dann kann ſie es nur fortſetzen, wenn es entweder auf einen gemüthlichen und Gefühlston übergeht oder auf einen beſtimmten vorliegenden Fall, den ſie erlebt hat. Ueber einen Fall, den man ihr blos erzählt, kann ſie nicht urtheilen, weil ſie alle Menſchen für gut hält, und alle nach ſich ſelbſt richtet. Delphine ſollte viel leſen. Sie liest, aber fragmentariſch. Sie iſt reich,
Gutzkow's Wally. 14
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[209/0218]
ſo unentweiht, ihre früheren Zärtlichkeiten ſind
ſo wenig ſichtbar in ihrem Benehmen, daß ſie
dem Manne immer noch als kaum erſchloſſene
Knospe erſcheinen muß. Delphine beſitzt äußer¬
lich die Reize nicht, einen Mann auf die Länge
zu feſſeln, aber wer ſie einmal, ſei es aus Liebe
oder Illuſion eroberte, der wird ſie nie ver¬
laſſen können, weil ihre Hülfloſigkeit, ihre Hin¬
gebung entwaffnet. Vielleicht arbeitet ſie noch
mehr an ihrem Geiſte. Sie hält einige Mi¬
nuten lang die Dialektik eines bloß verſtän¬
digen logiſchen Geſprächs aus; aber dann kann
ſie es nur fortſetzen, wenn es entweder auf
einen gemüthlichen und Gefühlston übergeht
oder auf einen beſtimmten vorliegenden Fall,
den ſie erlebt hat. Ueber einen Fall, den man
ihr blos erzählt, kann ſie nicht urtheilen, weil
ſie alle Menſchen für gut hält, und alle nach
ſich ſelbſt richtet. Delphine ſollte viel leſen.
Sie liest, aber fragmentariſch. Sie iſt reich,
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Gutzkow, Karl: Wally, die Zweiflerin. Mannheim, 1835, S. 209. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_wally_1835/218>, abgerufen am 24.11.2024.
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