[Gutzkow, Karl]: Briefe eines Narren an eine Närrin. Hamburg, 1832.was konnte mir größern Trost gewähren? Ich weiß, daß das Buch des Lebens nie mehr enthält, als was wir hineinschreiben, daß der die Zeit verstand, der seinen Geist zu dem ihren machte. Wer jede Stunde benutzt, hat einen Tag genossen, auch Jahrhunderte bestehen nur aus Tagen. Mein junges Leben hab' ich mir in Augenblicke getheilt, und wenn mir jeder dieser Augenblicke einen Freudenbecher an den Mund setzte, so hab' ich ihn getrunken. Verstand ich also nicht mich, nicht meine Zeit? Weil ich aber nie rechte Entzückung empfunden, so starb ich an der ersten, die ich empfand. Ich starb im Morgenroth eines schönen Tages, sah noch die aufgehende Sonne der Freiheit, und ganz Europa erfüllte die traurige Kunde, Lord Byron sei zu den Todten gegangen. Aber noch leb' ich, Geliebte! Ich gleiche dem Gedanken und der Natur, die sich ewig zerstört, um sich ewig wieder zu erzeugen. Die Leidenschaften der Menschen läutern sich immer mehr. Jetzt hoff' ich auf sie, weil sie selbst hoffen. Diesen Morgen, Unvergeßliche, als noch Finsterniß im Thale lag, die Sterne aber schon immer matter und ferner glommen, ergriff ich den Wanderstab, um meine Lebensreise fortzusetzen. Einen Strom ging ich entlang. Von den morschen Weidenstämmen, die in der dunkeln Fluth ihre was konnte mir größern Trost gewähren? Ich weiß, daß das Buch des Lebens nie mehr enthält, als was wir hineinschreiben, daß der die Zeit verstand, der seinen Geist zu dem ihren machte. Wer jede Stunde benutzt, hat einen Tag genossen, auch Jahrhunderte bestehen nur aus Tagen. Mein junges Leben hab’ ich mir in Augenblicke getheilt, und wenn mir jeder dieser Augenblicke einen Freudenbecher an den Mund setzte, so hab’ ich ihn getrunken. Verstand ich also nicht mich, nicht meine Zeit? Weil ich aber nie rechte Entzückung empfunden, so starb ich an der ersten, die ich empfand. Ich starb im Morgenroth eines schönen Tages, sah noch die aufgehende Sonne der Freiheit, und ganz Europa erfüllte die traurige Kunde, Lord Byron sei zu den Todten gegangen. Aber noch leb’ ich, Geliebte! Ich gleiche dem Gedanken und der Natur, die sich ewig zerstört, um sich ewig wieder zu erzeugen. Die Leidenschaften der Menschen läutern sich immer mehr. Jetzt hoff’ ich auf sie, weil sie selbst hoffen. Diesen Morgen, Unvergeßliche, als noch Finsterniß im Thale lag, die Sterne aber schon immer matter und ferner glommen, ergriff ich den Wanderstab, um meine Lebensreise fortzusetzen. Einen Strom ging ich entlang. Von den morschen Weidenstämmen, die in der dunkeln Fluth ihre <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0244" n="231"/> was konnte mir größern Trost gewähren? Ich weiß, daß das Buch des Lebens nie mehr enthält, als was wir hineinschreiben, daß der die Zeit verstand, der seinen Geist zu dem ihren machte. Wer jede Stunde benutzt, hat einen Tag genossen, auch Jahrhunderte bestehen nur aus Tagen. Mein junges Leben hab’ ich mir in Augenblicke getheilt, und wenn mir jeder dieser Augenblicke einen Freudenbecher an den Mund setzte, so hab’ ich ihn getrunken. Verstand ich also nicht mich, nicht meine Zeit? Weil ich aber nie rechte Entzückung empfunden, so starb ich an der ersten, die ich empfand. Ich starb im Morgenroth eines schönen Tages, sah noch die aufgehende Sonne der Freiheit, und ganz Europa erfüllte die traurige Kunde, <hi rendition="#g">Lord Byron</hi> sei zu den Todten gegangen.</p> <p>Aber noch leb’ ich, Geliebte! Ich gleiche dem Gedanken und der Natur, die sich ewig zerstört, um sich ewig wieder zu erzeugen. Die Leidenschaften der Menschen läutern sich immer mehr. Jetzt hoff’ ich auf sie, weil sie selbst hoffen.</p> <p>Diesen Morgen, Unvergeßliche, als noch Finsterniß im Thale lag, die Sterne aber schon immer matter und ferner glommen, ergriff ich den Wanderstab, um meine Lebensreise fortzusetzen. Einen Strom ging ich entlang. Von den morschen Weidenstämmen, die in der dunkeln Fluth ihre </p> </div> </body> </text> </TEI> [231/0244]
was konnte mir größern Trost gewähren? Ich weiß, daß das Buch des Lebens nie mehr enthält, als was wir hineinschreiben, daß der die Zeit verstand, der seinen Geist zu dem ihren machte. Wer jede Stunde benutzt, hat einen Tag genossen, auch Jahrhunderte bestehen nur aus Tagen. Mein junges Leben hab’ ich mir in Augenblicke getheilt, und wenn mir jeder dieser Augenblicke einen Freudenbecher an den Mund setzte, so hab’ ich ihn getrunken. Verstand ich also nicht mich, nicht meine Zeit? Weil ich aber nie rechte Entzückung empfunden, so starb ich an der ersten, die ich empfand. Ich starb im Morgenroth eines schönen Tages, sah noch die aufgehende Sonne der Freiheit, und ganz Europa erfüllte die traurige Kunde, Lord Byron sei zu den Todten gegangen.
Aber noch leb’ ich, Geliebte! Ich gleiche dem Gedanken und der Natur, die sich ewig zerstört, um sich ewig wieder zu erzeugen. Die Leidenschaften der Menschen läutern sich immer mehr. Jetzt hoff’ ich auf sie, weil sie selbst hoffen.
Diesen Morgen, Unvergeßliche, als noch Finsterniß im Thale lag, die Sterne aber schon immer matter und ferner glommen, ergriff ich den Wanderstab, um meine Lebensreise fortzusetzen. Einen Strom ging ich entlang. Von den morschen Weidenstämmen, die in der dunkeln Fluth ihre
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Zitationshilfe: | [Gutzkow, Karl]: Briefe eines Narren an eine Närrin. Hamburg, 1832, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_narren_1832/244>, abgerufen am 16.02.2025. |