[Gutzkow, Karl]: Briefe eines Narren an eine Närrin. Hamburg, 1832.Dies Ansinnen hab' ich aus Bescheidenheit zurückgewiesen. Aber da Du es auch mit vieler Consequenz auf das Ganze und Große der Geschichte bezogen hast, so gesteh' ich offen, daß Du zwar die Kunst, aber nicht die Wahrheit gefördert hast. Du denkst nun, die absolute Vollendung der Weltgeschichte construirt zu haben. Du beschreibst mir Deine allerdings erstaunenswerthe Sammlung von Supplementen zu den vorhandenen theils unvollendeten, theils verfallenen Ueberresten alter Kunst. Alle die Nasen, Hände, Zehen, Füße, die an diesen Statuen fehlen, hast Du nachformen lassen und sie in einem Museum gesammelt als Symbole unserer historischen Zukunft. In so fern Du die Kunst mit der Geschichte in Verbindung gebracht hast, stimm' ich Dir bei; denn allerdings ist die bildende Kunst in früherer Zeit der unmittelbarste Ausdruck des nach Formen ringenden Weltgeistes gewesen. Aber mit der ganzen Fülle nachsichtiger Freundesliebe frag' ich Dich, ob wir nichts Anderes suchen sollen, als was die Vorfahren verloren haben, nichts Anderes verfolgen sollen, als was ihnen entgangen ist? Ist nicht die schwächste Art, in das großartige Spiel der gelösten lebenden und lebenschaffenden Kräfte einzugreifen, jene Reflexion auf die Vergangenheit, wo wir uns ihr gefangen geben, und nur das wollen, Dies Ansinnen hab’ ich aus Bescheidenheit zurückgewiesen. Aber da Du es auch mit vieler Consequenz auf das Ganze und Große der Geschichte bezogen hast, so gesteh’ ich offen, daß Du zwar die Kunst, aber nicht die Wahrheit gefördert hast. Du denkst nun, die absolute Vollendung der Weltgeschichte construirt zu haben. Du beschreibst mir Deine allerdings erstaunenswerthe Sammlung von Supplementen zu den vorhandenen theils unvollendeten, theils verfallenen Ueberresten alter Kunst. Alle die Nasen, Hände, Zehen, Füße, die an diesen Statuen fehlen, hast Du nachformen lassen und sie in einem Museum gesammelt als Symbole unserer historischen Zukunft. In so fern Du die Kunst mit der Geschichte in Verbindung gebracht hast, stimm’ ich Dir bei; denn allerdings ist die bildende Kunst in früherer Zeit der unmittelbarste Ausdruck des nach Formen ringenden Weltgeistes gewesen. Aber mit der ganzen Fülle nachsichtiger Freundesliebe frag’ ich Dich, ob wir nichts Anderes suchen sollen, als was die Vorfahren verloren haben, nichts Anderes verfolgen sollen, als was ihnen entgangen ist? Ist nicht die schwächste Art, in das großartige Spiel der gelösten lebenden und lebenschaffenden Kräfte einzugreifen, jene Reflexion auf die Vergangenheit, wo wir uns ihr gefangen geben, und nur das wollen, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0235" n="222"/> <p> Dies Ansinnen hab’ ich aus Bescheidenheit zurückgewiesen. Aber da Du es auch mit vieler Consequenz auf das Ganze und Große der Geschichte bezogen hast, so gesteh’ ich offen, daß Du zwar die Kunst, aber nicht die Wahrheit gefördert hast. Du denkst nun, die absolute Vollendung der Weltgeschichte construirt zu haben. Du beschreibst mir Deine allerdings erstaunenswerthe Sammlung von Supplementen zu den vorhandenen theils unvollendeten, theils verfallenen Ueberresten alter Kunst. Alle die Nasen, Hände, Zehen, Füße, die an diesen Statuen fehlen, hast Du nachformen lassen und sie in einem Museum gesammelt als Symbole unserer historischen Zukunft. In so fern Du die Kunst mit der Geschichte in Verbindung gebracht hast, stimm’ ich Dir bei; denn allerdings ist die bildende Kunst in früherer Zeit der unmittelbarste Ausdruck des nach Formen ringenden Weltgeistes gewesen. Aber mit der ganzen Fülle nachsichtiger Freundesliebe frag’ ich Dich, ob wir nichts Anderes suchen sollen, als was die Vorfahren verloren haben, nichts Anderes verfolgen sollen, als was ihnen entgangen ist? Ist nicht die schwächste Art, in das großartige Spiel der gelösten lebenden und lebenschaffenden Kräfte einzugreifen, jene Reflexion auf die Vergangenheit, wo wir uns ihr gefangen geben, und nur das wollen, </p> </div> </body> </text> </TEI> [222/0235]
Dies Ansinnen hab’ ich aus Bescheidenheit zurückgewiesen. Aber da Du es auch mit vieler Consequenz auf das Ganze und Große der Geschichte bezogen hast, so gesteh’ ich offen, daß Du zwar die Kunst, aber nicht die Wahrheit gefördert hast. Du denkst nun, die absolute Vollendung der Weltgeschichte construirt zu haben. Du beschreibst mir Deine allerdings erstaunenswerthe Sammlung von Supplementen zu den vorhandenen theils unvollendeten, theils verfallenen Ueberresten alter Kunst. Alle die Nasen, Hände, Zehen, Füße, die an diesen Statuen fehlen, hast Du nachformen lassen und sie in einem Museum gesammelt als Symbole unserer historischen Zukunft. In so fern Du die Kunst mit der Geschichte in Verbindung gebracht hast, stimm’ ich Dir bei; denn allerdings ist die bildende Kunst in früherer Zeit der unmittelbarste Ausdruck des nach Formen ringenden Weltgeistes gewesen. Aber mit der ganzen Fülle nachsichtiger Freundesliebe frag’ ich Dich, ob wir nichts Anderes suchen sollen, als was die Vorfahren verloren haben, nichts Anderes verfolgen sollen, als was ihnen entgangen ist? Ist nicht die schwächste Art, in das großartige Spiel der gelösten lebenden und lebenschaffenden Kräfte einzugreifen, jene Reflexion auf die Vergangenheit, wo wir uns ihr gefangen geben, und nur das wollen,
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Zitationshilfe: | [Gutzkow, Karl]: Briefe eines Narren an eine Närrin. Hamburg, 1832, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gutzkow_narren_1832/235>, abgerufen am 16.02.2025. |