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Gundling, Nicolaus Hieronymus: Discovrs über Weyl. Herrn D. Io. Franc. Bvddei [...] Philosophiæ Practicæ Part. III. Die Politic. Frankfurt (Main) u. a., 1733.

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die haben immer vom judicio geschwatzet, und gesagt, die memorie wäre
ein defect; haben also das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Judi-
cium
ist das Vornehmste. Ingenium muß einer auch haben, aber die
memorie am allermeisten: Denn es muß einer experientiam haben, ex-
perientia
aber ist nichts anders, als eine continuatio memoriae. In mei-
nem Antworts-Schreiben an einen Preußischen Edelmann habe ich die
Antimemoristen wacker railliret. Wo kan einer judicium, ingenium ha-
ben, wenn er keine memorie hat. Wir sehen auch, daß wenn einem die
memorie entgehet, so ist alles aus; aber freylich das judicium muß einer
excoliren; über die Sachen reflectiren, und darff keiner dencken, daß
ihm die memorie schädlich am judicio, sondern das ist Ursach, daß er be-
ständig hineingepfropfft, und nicht stille stehet, über die Sachen zu refle-
cti
ren. Wir sehen ja, daß wir uns helffen, wenn wir eine Sache nicht
behalten können. Richelieu, da so viele wider ihn waren, die Printzen
von Geblüth, des Königs Mutter, ja der König selbst, und er sich vor
allen in acht nehmen muste, so hat er seiner memorie nicht getrauet, son-
dern ein journal gehalten, und aufgezeichnet, das habe er von diesem, das
andere von jenem gehöret, dieses journal hat er etliche Monath gehal-
ten, und ist es schon sehr groß; Vor diesem habe ich auch gemeynet, die
memorie wäre nichts, dachte auch, ich hätte keine memorie, wollte also
den Kopff nicht anstrecken; Hernach aber bekam ich einen impetum, und
wie ich gesehen, daß ich konnte etwas auswendig lernen, habe solches
immer continuiret. Wenn die memorie nicht excoliret wird, verliehret
sie sich bald. Menage hat eine excellente memorie gehabt, die er bis in
sein hohes Alter erhalten, weil er alle Tage etwas auswendig gelernet.
Bey der memorie ist eine beständige revocatio vonnöthen: Tantum sci-
mus, quantum memoria tenemus. Grotius
hat eine memorie gehabt,
daß er einmahl ein Regiment sehen mustern, und wie sie zurück kommen-
hat er sie alle wissen beyn Nahmen zu nennen: Dieses erzehlet Casp.
Brant,
in seiner Lebens-Beschreibung. Es muß sich auch einer ratione
intellectus
prüfen, ob er sich nach Hofe schicke, damit er nicht ein bouffon
wird. Quaer. Wie einer beschaffen seyn muß, ratione voluntatis? Vie-
le bilden sich ein, wer eine ambition hätte, könne a la Cour gehen, nichts
wenigers. Gloriae cupiditas muß da seyn; Aber was die ambition bö-
ses bey sich hat, schickt sich nicht dahin. Ein ambitiosus will mit dem
Kopff oben hinaus, schlägt um sich, bey Hofe aber muß einer was ver-
tragen können, und bey vielen dencken: ein etcetera sey so viel, als ein
comma. Wenn Churfürst Friedrich VVilhelm das podagra gehabt, so
ist mancher etcetera mit unter gelauffen, wenn da einer hitzig seyn wollte,

und

Cap. V.
die haben immer vom judicio geſchwatzet, und geſagt, die memorie waͤre
ein defect; haben alſo das Kind mit dem Bade ausgeſchuͤttet. Judi-
cium
iſt das Vornehmſte. Ingenium muß einer auch haben, aber die
memorie am allermeiſten: Denn es muß einer experientiam haben, ex-
perientia
aber iſt nichts anders, als eine continuatio memoriæ. In mei-
nem Antworts-Schreiben an einen Preußiſchen Edelmann habe ich die
Antimemoriſten wacker railliret. Wo kan einer judicium, ingenium ha-
ben, wenn er keine memorie hat. Wir ſehen auch, daß wenn einem die
memorie entgehet, ſo iſt alles aus; aber freylich das judicium muß einer
excoliren; uͤber die Sachen reflectiren, und darff keiner dencken, daß
ihm die memorie ſchaͤdlich am judicio, ſondern das iſt Urſach, daß er be-
ſtaͤndig hineingepfropfft, und nicht ſtille ſtehet, uͤber die Sachen zu refle-
cti
ren. Wir ſehen ja, daß wir uns helffen, wenn wir eine Sache nicht
behalten koͤnnen. Richelieu, da ſo viele wider ihn waren, die Printzen
von Gebluͤth, des Koͤnigs Mutter, ja der Koͤnig ſelbſt, und er ſich vor
allen in acht nehmen muſte, ſo hat er ſeiner memorie nicht getrauet, ſon-
dern ein journal gehalten, und aufgezeichnet, das habe er von dieſem, das
andere von jenem gehoͤret, dieſes journal hat er etliche Monath gehal-
ten, und iſt es ſchon ſehr groß; Vor dieſem habe ich auch gemeynet, die
memorie waͤre nichts, dachte auch, ich haͤtte keine memorie, wollte alſo
den Kopff nicht anſtrecken; Hernach aber bekam ich einen impetum, und
wie ich geſehen, daß ich konnte etwas auswendig lernen, habe ſolches
immer continuiret. Wenn die memorie nicht excoliret wird, verliehret
ſie ſich bald. Menage hat eine excellente memorie gehabt, die er bis in
ſein hohes Alter erhalten, weil er alle Tage etwas auswendig gelernet.
Bey der memorie iſt eine beſtaͤndige revocatio vonnoͤthen: Tantum ſci-
mus, quantum memoria tenemus. Grotius
hat eine memorie gehabt,
daß er einmahl ein Regiment ſehen muſtern, und wie ſie zuruͤck kommen-
hat er ſie alle wiſſen beyn Nahmen zu nennen: Dieſes erzehlet Caſp.
Brant,
in ſeiner Lebens-Beſchreibung. Es muß ſich auch einer ratione
intellectus
pruͤfen, ob er ſich nach Hofe ſchicke, damit er nicht ein bouffon
wird. Quær. Wie einer beſchaffen ſeyn muß, ratione voluntatis? Vie-
le bilden ſich ein, wer eine ambition haͤtte, koͤnne a la Cour gehen, nichts
wenigers. Gloriæ cupiditas muß da ſeyn; Aber was die ambition boͤ-
ſes bey ſich hat, ſchickt ſich nicht dahin. Ein ambitioſus will mit dem
Kopff oben hinaus, ſchlaͤgt um ſich, bey Hofe aber muß einer was ver-
tragen koͤnnen, und bey vielen dencken: ein etcetera ſey ſo viel, als ein
comma. Wenn Churfuͤrſt Friedrich VVilhelm das podagra gehabt, ſo
iſt mancher etcetera mit unter gelauffen, wenn da einer hitzig ſeyn wollte,

und
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[482/0502] Cap. V. die haben immer vom judicio geſchwatzet, und geſagt, die memorie waͤre ein defect; haben alſo das Kind mit dem Bade ausgeſchuͤttet. Judi- cium iſt das Vornehmſte. Ingenium muß einer auch haben, aber die memorie am allermeiſten: Denn es muß einer experientiam haben, ex- perientia aber iſt nichts anders, als eine continuatio memoriæ. In mei- nem Antworts-Schreiben an einen Preußiſchen Edelmann habe ich die Antimemoriſten wacker railliret. Wo kan einer judicium, ingenium ha- ben, wenn er keine memorie hat. Wir ſehen auch, daß wenn einem die memorie entgehet, ſo iſt alles aus; aber freylich das judicium muß einer excoliren; uͤber die Sachen reflectiren, und darff keiner dencken, daß ihm die memorie ſchaͤdlich am judicio, ſondern das iſt Urſach, daß er be- ſtaͤndig hineingepfropfft, und nicht ſtille ſtehet, uͤber die Sachen zu refle- ctiren. Wir ſehen ja, daß wir uns helffen, wenn wir eine Sache nicht behalten koͤnnen. Richelieu, da ſo viele wider ihn waren, die Printzen von Gebluͤth, des Koͤnigs Mutter, ja der Koͤnig ſelbſt, und er ſich vor allen in acht nehmen muſte, ſo hat er ſeiner memorie nicht getrauet, ſon- dern ein journal gehalten, und aufgezeichnet, das habe er von dieſem, das andere von jenem gehoͤret, dieſes journal hat er etliche Monath gehal- ten, und iſt es ſchon ſehr groß; Vor dieſem habe ich auch gemeynet, die memorie waͤre nichts, dachte auch, ich haͤtte keine memorie, wollte alſo den Kopff nicht anſtrecken; Hernach aber bekam ich einen impetum, und wie ich geſehen, daß ich konnte etwas auswendig lernen, habe ſolches immer continuiret. Wenn die memorie nicht excoliret wird, verliehret ſie ſich bald. Menage hat eine excellente memorie gehabt, die er bis in ſein hohes Alter erhalten, weil er alle Tage etwas auswendig gelernet. Bey der memorie iſt eine beſtaͤndige revocatio vonnoͤthen: Tantum ſci- mus, quantum memoria tenemus. Grotius hat eine memorie gehabt, daß er einmahl ein Regiment ſehen muſtern, und wie ſie zuruͤck kommen- hat er ſie alle wiſſen beyn Nahmen zu nennen: Dieſes erzehlet Caſp. Brant, in ſeiner Lebens-Beſchreibung. Es muß ſich auch einer ratione intellectus pruͤfen, ob er ſich nach Hofe ſchicke, damit er nicht ein bouffon wird. Quær. Wie einer beſchaffen ſeyn muß, ratione voluntatis? Vie- le bilden ſich ein, wer eine ambition haͤtte, koͤnne a la Cour gehen, nichts wenigers. Gloriæ cupiditas muß da ſeyn; Aber was die ambition boͤ- ſes bey ſich hat, ſchickt ſich nicht dahin. Ein ambitioſus will mit dem Kopff oben hinaus, ſchlaͤgt um ſich, bey Hofe aber muß einer was ver- tragen koͤnnen, und bey vielen dencken: ein etcetera ſey ſo viel, als ein comma. Wenn Churfuͤrſt Friedrich VVilhelm das podagra gehabt, ſo iſt mancher etcetera mit unter gelauffen, wenn da einer hitzig ſeyn wollte, und

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Zitationshilfe: Gundling, Nicolaus Hieronymus: Discovrs über Weyl. Herrn D. Io. Franc. Bvddei [...] Philosophiæ Practicæ Part. III. Die Politic. Frankfurt (Main) u. a., 1733, S. 482. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gundling_discours_1733/502>, abgerufen am 21.11.2024.