Günther, Karl Gottlob: Europäisches Völkerrecht in Friedenszeiten nach Vernunft, Verträgen und Herkommen, mit Anwendung auf die teutschen Reichsstände. Bd. 1. Altenburg, 1787.und dem europäischen insbesondere. ganze Wissenschaft nicht zu verwerfen. Was hier zweifel-haft und unerörtert bleibt, ist, wo möglich, aus dem po- sitiven Völkerrechte zu bestimmen. Wäre aus dem natür- lichen alles zu entscheiden, so bedürfte man des leztern nicht. **] Ferner hält Moser dafür, man müsse blos Thatsachen anführen, ohne darüber zu urteilen, weil Privatpersonen solches nicht zukomme, und deren Meinung die Sache doch nicht entscheide. Diesen Grundsatz hat er auch in seinen europäischen Völkerrechtsschriften, besonders in seinem neu- sten Versuche, treulich befolgt. "Ich schreibe," sagt er in der vorläufigen Abhandlung, "kein politisches Völ- kerrecht; wie ein Raisoneur, der die Handlungen derer Souverainen nach dem Maasstab seiner kurz- oder weit- sichtigen Begriffe von Staatssachen abmisset und beurtei- let." Er giebt seine Arbeit daher blos für eine politische, in eine gewisse Ordnung gebrachte Reisebeschreibung durch ganz Europa aus, wo der Reisende sich begnügt, zu beob- achten und anzumerken, was er gesehen hat, ohne dar- über zu glossiren; die er, wie seine eignen Worte lauten, in der Absicht aufgesetzt hat, um den Leser die Welt ken- nen zu lehren, und ihn ein bischen durch Europa spazieren zu führen. In der That ist dies Werk auch fast lediglich systematische Staatengeschichte von Europa. Nicht ohne Grund aber klagt Kaspar Calvör [in dialog. iren. de pace religiosa] daß die Staatsrechtsgelehrten mehr den Geschichtschreiber als Rechtsgelehrten und Philosophen machten, und nur den Geschichts- aber nicht den Rechts- punkt erörterten. Schon oft ist dieser Moserschen Lehrart daher der Vorwurf gemacht worden, daß man solcherge- stalt nicht wisse, was unter den europäischen Nazionen recht oder unrecht sey? Zwar entgegnet derselbe, daß es im europäischen Völkerrechte viele gleichgültige Handlun- gen gebe, und hier auf Erden Niemand Richter über die- selben sey, sondern sie dem großen algemeinen Gerichtsta- ge Gottes anheimgestellt blieben: Allein die gleichgültigen E 3
und dem europaͤiſchen insbeſondere. ganze Wiſſenſchaft nicht zu verwerfen. Was hier zweifel-haft und uneroͤrtert bleibt, iſt, wo moͤglich, aus dem po- ſitiven Voͤlkerrechte zu beſtimmen. Waͤre aus dem natuͤr- lichen alles zu entſcheiden, ſo beduͤrfte man des leztern nicht. **] Ferner haͤlt Moſer dafuͤr, man muͤſſe blos Thatſachen anfuͤhren, ohne daruͤber zu urteilen, weil Privatperſonen ſolches nicht zukomme, und deren Meinung die Sache doch nicht entſcheide. Dieſen Grundſatz hat er auch in ſeinen europaͤiſchen Voͤlkerrechtsſchriften, beſonders in ſeinem neu- ſten Verſuche, treulich befolgt. “Ich ſchreibe,” ſagt er in der vorlaͤufigen Abhandlung, “kein politiſches Voͤl- kerrecht; wie ein Raiſoneur, der die Handlungen derer Souverainen nach dem Maasſtab ſeiner kurz- oder weit- ſichtigen Begriffe von Staatsſachen abmiſſet und beurtei- let.” Er giebt ſeine Arbeit daher blos fuͤr eine politiſche, in eine gewiſſe Ordnung gebrachte Reiſebeſchreibung durch ganz Europa aus, wo der Reiſende ſich begnuͤgt, zu beob- achten und anzumerken, was er geſehen hat, ohne dar- uͤber zu gloſſiren; die er, wie ſeine eignen Worte lauten, in der Abſicht aufgeſetzt hat, um den Leſer die Welt ken- nen zu lehren, und ihn ein bischen durch Europa ſpazieren zu fuͤhren. In der That iſt dies Werk auch faſt lediglich ſyſtematiſche Staatengeſchichte von Europa. Nicht ohne Grund aber klagt Kaſpar Calvoͤr [in dialog. iren. de pace religioſa] daß die Staatsrechtsgelehrten mehr den Geſchichtſchreiber als Rechtsgelehrten und Philoſophen machten, und nur den Geſchichts- aber nicht den Rechts- punkt eroͤrterten. Schon oft iſt dieſer Moſerſchen Lehrart daher der Vorwurf gemacht worden, daß man ſolcherge- ſtalt nicht wiſſe, was unter den europaͤiſchen Nazionen recht oder unrecht ſey? Zwar entgegnet derſelbe, daß es im europaͤiſchen Voͤlkerrechte viele gleichguͤltige Handlun- gen gebe, und hier auf Erden Niemand Richter uͤber die- ſelben ſey, ſondern ſie dem großen algemeinen Gerichtsta- ge Gottes anheimgeſtellt blieben: Allein die gleichguͤltigen E 3
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ganze Wiſſenſchaft nicht zu verwerfen. Was hier zweifel-
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ſitiven Voͤlkerrechte zu beſtimmen. Waͤre aus dem natuͤr-
lichen alles zu entſcheiden, ſo beduͤrfte man des leztern nicht.
**] Ferner haͤlt Moſer dafuͤr, man muͤſſe blos Thatſachen
anfuͤhren, ohne daruͤber zu urteilen, weil Privatperſonen
ſolches nicht zukomme, und deren Meinung die Sache doch
nicht entſcheide. Dieſen Grundſatz hat er auch in ſeinen
europaͤiſchen Voͤlkerrechtsſchriften, beſonders in ſeinem neu-
ſten Verſuche, treulich befolgt. “Ich ſchreibe,” ſagt er
in der vorlaͤufigen Abhandlung, “kein politiſches Voͤl-
kerrecht; wie ein Raiſoneur, der die Handlungen derer
Souverainen nach dem Maasſtab ſeiner kurz- oder weit-
ſichtigen Begriffe von Staatsſachen abmiſſet und beurtei-
let.” Er giebt ſeine Arbeit daher blos fuͤr eine politiſche,
in eine gewiſſe Ordnung gebrachte Reiſebeſchreibung durch
ganz Europa aus, wo der Reiſende ſich begnuͤgt, zu beob-
achten und anzumerken, was er geſehen hat, ohne dar-
uͤber zu gloſſiren; die er, wie ſeine eignen Worte lauten,
in der Abſicht aufgeſetzt hat, um den Leſer die Welt ken-
nen zu lehren, und ihn ein bischen durch Europa ſpazieren
zu fuͤhren. In der That iſt dies Werk auch faſt lediglich
ſyſtematiſche Staatengeſchichte von Europa. Nicht ohne
Grund aber klagt Kaſpar Calvoͤr [in dialog. iren. de
pace religioſa] daß die Staatsrechtsgelehrten mehr den
Geſchichtſchreiber als Rechtsgelehrten und Philoſophen
machten, und nur den Geſchichts- aber nicht den Rechts-
punkt eroͤrterten. Schon oft iſt dieſer Moſerſchen Lehrart
daher der Vorwurf gemacht worden, daß man ſolcherge-
ſtalt nicht wiſſe, was unter den europaͤiſchen Nazionen
recht oder unrecht ſey? Zwar entgegnet derſelbe, daß es
im europaͤiſchen Voͤlkerrechte viele gleichguͤltige Handlun-
gen gebe, und hier auf Erden Niemand Richter uͤber die-
ſelben ſey, ſondern ſie dem großen algemeinen Gerichtsta-
ge Gottes anheimgeſtellt blieben: Allein die gleichguͤltigen
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