Grosse, Julius: Vetter Isidor. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 103–236. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.sternhelle Firmament. Die Luft war so still, daß man deutlich das ferne Brausen der Hauptstadt, das leise Rauschen des Hauptstromes jenseits des Stadtwaldes hören konnte. Frau Conrectorin wandelte wie die weiße Frau immer noch durch ihr Anwesen, sie hatte immer noch keinen vernünftigen Gedanken gefunden, der ihr gefiel. Jetzt trippelte sie wieder hinauf in ihr Schlafzimmer, das im oberen Stock des Vorderhauses an einer offenen Gallerie lag. Ein Licht hatte sie nicht angezündet, denn sie war sehr sparsam in diesem Punkt -- wie alle wirthschaftlichen Frauen. Jetzt stand sie an dem offenen Fenster und schaute in die duftige Nacht hinaus, hinüber zu dem stolzen, reichen Hofgut, wo der alte General Schnorrigl mit seiner schönen Enkelin wohnte. Auch hier, an der östlichen Front des palastähnlichen Schlosses, stand ein Fenster offen, und durch das hohe Zimmer schimmerte ein ungewisser Lichtschein. Die Thüre zum Familienzimmer mußte offen stehen, es kam der Frau Conrectorin vor, als ob dort laut gesprochen würde. Lauschend blieb sie noch eine Weile am Fenster stehen. Es war sonst gar nicht die Art der braven Frau, zu horchen, aber wenn sich die Leute so wenig genirten, daß man sie sogar auf der Landstraße hören konnte, weßhalb sollte sie dann Rücksicht nehmen? Stand sie doch auf ihrem Eigenthum. Die Stimmen dort wehten bald näher, bald entfernter herüber; man schien sich in verschiedenen Zim- sternhelle Firmament. Die Luft war so still, daß man deutlich das ferne Brausen der Hauptstadt, das leise Rauschen des Hauptstromes jenseits des Stadtwaldes hören konnte. Frau Conrectorin wandelte wie die weiße Frau immer noch durch ihr Anwesen, sie hatte immer noch keinen vernünftigen Gedanken gefunden, der ihr gefiel. Jetzt trippelte sie wieder hinauf in ihr Schlafzimmer, das im oberen Stock des Vorderhauses an einer offenen Gallerie lag. Ein Licht hatte sie nicht angezündet, denn sie war sehr sparsam in diesem Punkt — wie alle wirthschaftlichen Frauen. Jetzt stand sie an dem offenen Fenster und schaute in die duftige Nacht hinaus, hinüber zu dem stolzen, reichen Hofgut, wo der alte General Schnorrigl mit seiner schönen Enkelin wohnte. Auch hier, an der östlichen Front des palastähnlichen Schlosses, stand ein Fenster offen, und durch das hohe Zimmer schimmerte ein ungewisser Lichtschein. Die Thüre zum Familienzimmer mußte offen stehen, es kam der Frau Conrectorin vor, als ob dort laut gesprochen würde. Lauschend blieb sie noch eine Weile am Fenster stehen. Es war sonst gar nicht die Art der braven Frau, zu horchen, aber wenn sich die Leute so wenig genirten, daß man sie sogar auf der Landstraße hören konnte, weßhalb sollte sie dann Rücksicht nehmen? Stand sie doch auf ihrem Eigenthum. Die Stimmen dort wehten bald näher, bald entfernter herüber; man schien sich in verschiedenen Zim- <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="3"> <p><pb facs="#f0072"/> sternhelle Firmament. Die Luft war so still, daß man deutlich das ferne Brausen der Hauptstadt, das leise Rauschen des Hauptstromes jenseits des Stadtwaldes hören konnte. Frau Conrectorin wandelte wie die weiße Frau immer noch durch ihr Anwesen, sie hatte immer noch keinen vernünftigen Gedanken gefunden, der ihr gefiel. Jetzt trippelte sie wieder hinauf in ihr Schlafzimmer, das im oberen Stock des Vorderhauses an einer offenen Gallerie lag. Ein Licht hatte sie nicht angezündet, denn sie war sehr sparsam in diesem Punkt — wie alle wirthschaftlichen Frauen.</p><lb/> <p>Jetzt stand sie an dem offenen Fenster und schaute in die duftige Nacht hinaus, hinüber zu dem stolzen, reichen Hofgut, wo der alte General Schnorrigl mit seiner schönen Enkelin wohnte.</p><lb/> <p>Auch hier, an der östlichen Front des palastähnlichen Schlosses, stand ein Fenster offen, und durch das hohe Zimmer schimmerte ein ungewisser Lichtschein. Die Thüre zum Familienzimmer mußte offen stehen, es kam der Frau Conrectorin vor, als ob dort laut gesprochen würde. Lauschend blieb sie noch eine Weile am Fenster stehen. Es war sonst gar nicht die Art der braven Frau, zu horchen, aber wenn sich die Leute so wenig genirten, daß man sie sogar auf der Landstraße hören konnte, weßhalb sollte sie dann Rücksicht nehmen? Stand sie doch auf ihrem Eigenthum.</p><lb/> <p>Die Stimmen dort wehten bald näher, bald entfernter herüber; man schien sich in verschiedenen Zim-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0072]
sternhelle Firmament. Die Luft war so still, daß man deutlich das ferne Brausen der Hauptstadt, das leise Rauschen des Hauptstromes jenseits des Stadtwaldes hören konnte. Frau Conrectorin wandelte wie die weiße Frau immer noch durch ihr Anwesen, sie hatte immer noch keinen vernünftigen Gedanken gefunden, der ihr gefiel. Jetzt trippelte sie wieder hinauf in ihr Schlafzimmer, das im oberen Stock des Vorderhauses an einer offenen Gallerie lag. Ein Licht hatte sie nicht angezündet, denn sie war sehr sparsam in diesem Punkt — wie alle wirthschaftlichen Frauen.
Jetzt stand sie an dem offenen Fenster und schaute in die duftige Nacht hinaus, hinüber zu dem stolzen, reichen Hofgut, wo der alte General Schnorrigl mit seiner schönen Enkelin wohnte.
Auch hier, an der östlichen Front des palastähnlichen Schlosses, stand ein Fenster offen, und durch das hohe Zimmer schimmerte ein ungewisser Lichtschein. Die Thüre zum Familienzimmer mußte offen stehen, es kam der Frau Conrectorin vor, als ob dort laut gesprochen würde. Lauschend blieb sie noch eine Weile am Fenster stehen. Es war sonst gar nicht die Art der braven Frau, zu horchen, aber wenn sich die Leute so wenig genirten, daß man sie sogar auf der Landstraße hören konnte, weßhalb sollte sie dann Rücksicht nehmen? Stand sie doch auf ihrem Eigenthum.
Die Stimmen dort wehten bald näher, bald entfernter herüber; man schien sich in verschiedenen Zim-
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